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Corona galt nicht als Katastrophe
Deutschland vergisst seine Krisen, statt aus ihnen zu lernen
»Wir leiden in Deutschland unter einer ausgeprägten Katastrophendemenz«, beklagt Hubertus C. Diemer vom DRK-Landesverband Brandenburg am Freitag im Landtag. 2007 sei in einer Katastrophenübung die Reaktion auf eine weltweite Pandemie geübt worden. Die dabei festgestellten Mängel seien aber danach nicht behoben worden.
2020 traf die Corona-Pandemie auf einen darauf nicht vorbereiteten Staat. Bei der nächsten Pandemie soll sich das nicht wiederholen. Darum befasst sich eine Enquetekommission des Brandenburger Landtags mit möglichen Lehren aus der Krise der Jahre 2020 bis 2022.
Brandenburg hatte bis jetzt 7168 Corona-Tote zu beklagen, davon 6873 bis Ende des Jahres 2023. Ab da gab es deutlich weniger Todesopfer. Das Virus hatte sich verändert und seinen Schrecken verloren. Ende Juni 2025 waren innerhalb von sieben Tagen nur noch 1,2 Infektionen je 100 000 Einwohner zu verzeichnen. Auf dem Höhepunkt im Februar 2022 hatte die Sieben-Tage-Inzidenz den Wert 1817 erreicht. 1,15 Millionen Infektionen hat es gegeben. Rechnerisch haben sich 45 Prozent der Bevölkerung angesteckt. 0,62 Prozent der Infizierten sind gestorben. 68 Prozent der Brandenburger ließen sich impfen.
Das war, in nackten Zahlen betrachtet, die Corona-Pandemie in Brandenburg. »Uns gelingt es eigentlich nie nach einer nationalen Krise, entsprechende Lehren zu ziehen«, bedauert DRK-Vorstandschef Diemer. Das Deutsche Rote Kreuz betreibt in Brandenburg 13 Pflegeheime und 45 ambulante Pflegedienste. Diese mussten sich im Verlauf der Coronakrise auf 30 verschiedene Rechtsverordnungen zur Eindämmung der Pandemie einstellen. Weil auch Pflegekräfte sich ansteckten oder als Kontaktpersonen von Infizierten zuhause bleiben sollten, fehlte es schnell am ohnehin schon knappen Personal.
Zwar verfüge jeder Landkreis über eine DRK-Einheit mit je 38 Sanitätern, berichtet Diemer. Aber in den Schulungen für diese ehrenamtlichen Helfer komme die Alten- und Krankenpflege nicht vor. Sie konnten lediglich die Rettungsdienste beim Krankentransport unterstützen. In einem Pflegeheim hätten sie zur Aushilfe tageweise eingesetzt werden können, vielleicht auch zwei Wochen lang, aber nicht über Monate hinweg, wie es erforderlich gewesen wäre, schildert Diemer. Genauso sah es ihm zufolge mit den DRK-Einheiten des Katastrophenschutzes aus, die je neun Angehörige zählen. Darüber hinaus sei es schwierig gewesen, ehrenamtlichen Helfern ihren Verdienstausfall zu ersetzen. Denn: »Die Corona-Pandemie war rechtlich gesehen keine Katastrophe.«
Insgesamt habe Brandenburg weniger ehrenamtliche Sanitäter als andere Bundesländer, sagt Diemer. Das DRK würde für den Fall der Fälle gern 85 000 Bundesbürger als Pflegeunterstützungshelfer ausbilden. Doch das müsste jemand finanzieren. Die Bundesregierung sehe leider die Notwendigkeit nicht.
Bei der Ausbildung der Fachkräfte sieht es momentan gar nicht mal so schlecht aus. 6000 Auszubildende in Gesundheitsberufen gebe es derzeit in Brandenburg, erzählt Anne Lehmkuhl, die als Referatsleiterin im Potsdamer Sozialministerium tätig ist. »In anderen Branchen haben wir durchaus einen Einbruch in der Ausbildung, bei den Gesundheitsberufen nicht.« Hier gebe es sogar einen leichten Aufwuchs.
Das ändert aber zunächst nichts daran, dass es bei den Gesundheitsfachkräften einen Engpass gibt. Was ein Engpass ist, definiert ein Punktesystem. Ab 2,0 Punkten wird von einem Engpass gesprochen. In Brandenburg liegen die Gesundheitsberufe bei 2,5 Punkten, Bundesdurchschnitt sind 2,7 Punkte.
Der Arbeitsmarkt sei »leergeschöpft«, weiß Lehmkuhl. »Wir haben die Schulabgänger, so wie sie da sind.« Das bedeutet: Für die Beschäftigten, die sich in die Rente verabschieden, rücken insgesamt zu wenige Schulabgänger ins Berufsleben nach. Es bleibt fast nichts anderes übrig, als die Arbeit in der Pflege anders zu organisieren.
Das Carl-Thiem-Klinikum (CTK) in Cottbus hatte während der Pandemie mit einem Mangel an Material und Personal zu kämpfen. »Die ersten drei, vier Monate war das eine enorme Herausforderung«, erinnert sich die damalige Pflegedirektorin Andrea Stewig-Nitschke. Sie hat das Krankenhaus nicht verlassen, aber es wurde zur Universitätsklinik aufgewertet – und nun ist Stewig-Nitschke Pflegevorstand statt Pflegedirektorin. Das CTK habe während der Pandemie frühzeitig einen Aufruf gestartet, dass ehemalige Beschäftigte aus dem Ruhestand oder aus neuen Tätigkeiten zeitweilig zurückkehren sollen, sagt Stewig-Nitschke. Planbare Behandlungen seien verschoben, Stationen schrittweise geschlossen worden. Hochspezialisiertes Personal aus großen Kliniken in andere Abteilungen zu versetzen, sei jedoch schwierig. »Das würde ich so heute nicht mehr machen«, gesteht Stewig-Nitschke.
Deutschland hatte damals und hat auch heute noch wenig Erfahrung im Umgang mit Extremsituationen in der Pflege, erklärt Markus Mühe vom Pflegereferat des Sozialministeriums. Mittlerweile müssten Pflegeeinrichtungen allerdings über Krisenkonzepte verfügen. Für solche Konzepte gebe es Handreichungen von Verbänden. »Pflegekräfte waren besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt«, schaut Mühe zurück auf die Coronajahre. Die Pflegekräfte mussten erleben, wie Patienten und Heimbewohner qualvoll starben und sie mussten klarkommen mit Masken-, Test- und Impfpflicht. Für die Allgemeinheit hatte es keine Corona-Impfpflicht gegeben, aber für medizinisches Personal.
Dass die Impfungen etwas Gutes bewirkt haben, zweifelt Adelheit von Strösser von der Pflegeethik-Initiative an. Außerdem kritisiert sie am Freitag die zeitweisen Besuchsverbote in den Pflegeheimen und zitiert dazu eine hochbetagte Bewohnerin, die gesagt habe: »Wir haben den Krieg miterlebt, aber das hier ist schlimmer.« Die auf Vorschlag der AfD zur Anhörung geladene Adelheit von Stösser spricht von »Corona-Wahnsinn«, »Corona-Hysterie« und einem Spuk, dem erst im März 2023 ein Ende gemacht worden sei. »Anstatt der Bevölkerung mit einer Maskenpflicht buchstäblich die Luft zum Atmen zu nehmen, wären Maßgaben zur Stärkung des Immunsystems angezeigt«, glaubt die 72-Jährige. Und sie sagt: »Sterben ist Teil unseres Lebens. Unsere Aufgabe kann es doch nicht sein, die Altersschwachen vor dem Tod zu bewahren.«
Der SPD-Abgeordnete Björn Lüttmann fragt verblüfft nach, ob sie das tatsächlich ernst meine. Lüttmann erinnert daran, dass sich die Todesfälle in Pflegeheimen häuften, wenn es dort zu einem Corona-Ausbruch gekommen war.
»Unsere Aufgabe kann es doch nicht sein, die Altersschwachen vor dem Tod zu bewahren.«
Adelheid von Stösser Pflegeethik-Initiative
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