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Körpergewicht aus dem Lot
Virtuelle Realität könnte Therapien zur Gewichtsregulierung unterstützen
Die einen wiegen deutlich zu viel, die anderen deutlich zu wenig. Nur in den Extremen sind diese Abweichungen mit komplexen und langwierigen Erkrankungen verbunden, etwa mit Adipositas oder eben mit Essstörungen. Obwohl die beiden Krankheitsgruppen unterschiedlich gelagert sind, haben sich medizinische Fachgesellschaften entschieden, im Oktober in Stuttgart einen gemeinsamen Kongress durchzuführen. In der vergangenen Woche wurden vorab einige Schwerpunkte vorgestellt.
Gemeinsam ist beiden Krankheitsgruppen das veränderte Körpergewicht. Ein Therapieziel bei beiden Gruppen ist zudem, dieses langfristig wieder zu verändern. Hier könnte all diesen Patienten mit einem neuen Therapieansatz geholfen werden, bei dem eine virtuelle Realität (englisch Virtual Reality – VR) genutzt wird.
»Männer zögern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn sie müssten dann anerkennen, dass sie eine psychische Störung haben.«
Georgios Paslakis Ruhr-Universität Bochum
Bei Magersucht (Anorexia nervosa) sind starkes Untergewicht sowie eine intensive Angst vor einer Gewichtszunahme wesentliche Symptome. Bei diesen Patientinnen und Patienten soll nicht nur eine Gewichtszunahme von Dauer erreicht werden. Auch eine Behandlung der mit dem Thema Gewicht verbundenen Ängste ist notwendig. Dazu erhalten die Betroffenen einen Avatar als Begleiter, ein biometrisches Modell des eigenen Körpers. »Das Modell wird von den Patienten als realistisch anerkannt. Es bietet einen Blick in die Zukunft und beantwortet die Frage, wie der eigene Körper normalgewichtig aussehen würde«, sagt Katrin Giel, die am Universitätsklinikum Tübingen bereits diesen Ansatz nutzt.
In sogenannten Expositionssitzungen werden die Patienten mehrmals mit der Aussicht auf ein normalgewichtiges Äußeres konfrontiert, das Ganze aber »nur« in Ergänzung mit anderen Therapiebausteinen. »Viele Patientinnen sind überrascht festzustellen, dass es für sie dann doch keinen Unterschied macht, ob ihr virtueller Körper zwei Kilogramm mehr oder weniger wiegt«, berichtet Simone Behrens, die in Tübingen die Arbeitsgruppe VR in der Psychotherapie leitet. Mittlerweile konnten zwei abgeschlossene Pilotstudien zeigen, dass der Ansatz tatsächlich zu einer Abnahme der Angst vor einer Gewichtszunahme führen kann. Der bei diesen Patienten vorhandenen Körperbildstörung wird also ein neues und auch realistisches Körperbild gegenübergestellt.
Bei Adipositas-Patienten geht es nicht um Angst vor dem Abnehmen oder einem geringeren Körpergewicht. Das Therapieziel ist eine langfristige Gewichtsabnahme, aber oft sind die Patienten nach vielen Diätversuchen verzweifelt und glauben kaum, dass ihnen dies jemals gelingen könnte. Hier besteht die Hoffnung, dass eine VR-Modellierung mehr motiviert als die Aufforderung, sich selbst mit weniger Gewicht vorzustellen. Die VR könnte das Ziel besser und individuell veranschaulichen und so zu neuen Verhaltensroutinen motivieren. Auch hier gab es bereits eine Pilotstudie, in der diese Probanden das VR-Modul als unterstützend erlebten. Eine Expertenbefragung zum Thema ergab, dass bei der Adipositasbehandlung solche Anwendungen dann ein Potenzial hätten, wenn die technischen Lösungen benutzerfreundlich, zielgruppenorientiert und bezahlbar seien.
Adipositas und Essstörungen haben außerdem das gemeinsame Merkmal, dass seit der Pandemie die Fallzahlen zunehmen. In Sachen Essstörungen wächst das Bewusstsein dafür, dass die Gruppe Betroffener deutlich heterogener ist, als nur »junge, wohlhabende, weiße Mädchen und Frauen« zu umfassen, wie es Georgios Paslakis beschreibt. Essstörungen betreffen durchaus auch ältere Erwachsene und Menschen aus ethnisch diversen Gruppen. Der Psychiater und Facharzt für psychosomatische Medizin forscht an der Ruhr-Universität Bochum zur sozialen Diversität bei Essstörungen. »In Kliniken kommt auf 10 bis 20 Frauen mit einer Anorexie nur ein Mann. Aber die Männer könnten jeden vierten klinischen Fall stellen«, sagt Paslakis. »Sie zögern, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn sie müssten dann anerkennen, dass sie eine psychische Störung haben.« Auch im Gesundheitswesen sei der Fokus auf die Frauen bei Essstörungen noch »ein weit verbreitetes Missverständnis«.
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Im Gegensatz zu den Frauen, die Schlanksein anstreben, ist für Männer der Muskelaufbau relevanter. Sie wollen dieses Ziel durch übermäßiges Krafttraining, Nahrungsergänzungsmittel und eine Ernährung mit hohen Proteinanteilen, teils auch mit Fasten erreichen. Arzneistoffe wie Anabolika, auch aus dem Doping bekannt, kommen hinzu. Zudem würden Jungen und Männer in Trainingsverhalten und »Disziplin« unhinterfragt bestärkt, der sportliche Exzess und das Pushen mit grenzwertigen Substanzen aber übersehen.
Eine Psychotherapie für diese Patienten sei »durch den männlichen Sozialisationsstil beeinflusst«, so Paslakis. Die Männer fühlten sich unwohl dabei, ihre Gefühle auszudrücken. Zu den Missverständnissen gehört zudem, dass Essstörungen eher schwulen Männern zugeschrieben werden. Das hindere Hetero-Männer noch einmal zusätzlich, sich Unterstützung zu holen. Tatsächlich haben laut Paslakis generell Personen aus sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten ein erhöhtes Risiko für essgestörtes Verhalten. Die Betroffenen-Gruppen werden aber zunehmend in ihrer Vielfalt wahrgenommen. So beginnt Muskularität auch bei Frauen eine Rolle zu spielen, wie Studien von Paslakis zeigen.
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