Werbung

Katastrophendienst statt Sozialarbeit

Gewerkschaft Verdi fordert mehr Ressourcen gegen Systemversagen in der Jugendhilfe

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.
Kinderkarneval einmal im Jahr ist prima, reicht aber lange nicht aus, um mal Dampf abzulassen.
Kinderkarneval einmal im Jahr ist prima, reicht aber lange nicht aus, um mal Dampf abzulassen.

»Eine ganze Generation macht die Erfahrung, dass ihr nicht geholfen wird, wenn Hilfe nötig ist, und es ist auch die Erfahrung von Kindern und Jugendlichen, dass der Staat versagt«, sagte Elke Alsago am Freitag anlässlich eines Aktionstages gegen die Krise in der Kinder- und Jugendbetreuung. Die Bundesfachgruppenleiterin für Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit bei der Gewerkschaft Verdi kritisierte zusammen mit anderen Beteiligten, dass unzureichende Finanzierung, Personalmangel, Überlastung und hohe Fluktuation der Beschäftigten das System in eine tiefe Krise gestürzt hätten. Nach Jahren verschärfter Unterfinanzierung bei immer komplexeren Aufgaben sei der Krankenstand bei den Beschäftigten enorm hoch. Kindergruppen müssten geschlossen und Familien abgewiesen werden.

Bei der bundesweiten Aktion unter dem Titel »Wer hilft noch, bevor das Kind in den Brunnen fällt?« übergaben am Freitag die bei Verdi organisierten Beschäftigten persönlich ihre Forderungen an die jeweiligen Finanzministerien von Bund und Ländern. Sie kamen jedoch nicht überall durch. Während Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) zumindest seinen Staatssekretär die Verdi-Beschäftigten empfangen und die Forderungen entgegennehmen ließ, wurden die Teilnehmer*innen der Aktion bei der Senatsverwaltung für Finanzen von Berlin nicht ins Haus gelassen. »Der Pförtner dort hatte offenbar Anweisung, die Tür für uns nicht zu öffnen, um das Schreiben mit den Forderungen und den Kita-Realitätscheck-Ergebnissen zu übergeben. Das ist peinlich und skandalös«, berichtet Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer. Zuvor war den Berliner Beschäftigten ein Termin zur Übergabe von Finanzsenator Stefan Evers (CDU) bereits verwehrt worden.  

Wie schlimm es um die Kinder- und Jugendhilfe beziehungsweise -betreuung in diesem Land steht, zeigt auch eine Studie des gemeinsamen Forschungsprojekts »Arbeitsbedingungen und verletzendes Verhalten im Alltag der Sozialen Arbeit«, die Verdi-Bundesfachgruppenleiterin Alsago am Freitag vorstellte. Ob von Beschäftigten an Kindern und Jugendlichen oder auch umgekehrt; ob zwischen den Kindern oder auch zwischen den Beschäftigten untereinander – verletzendes Verhalten bis hin zu Gewalt nehme immer mehr zu, heißt es da. »Die schlechten Arbeitsbedingungen, fehlende Beteiligung, unklare Zuständigkeiten und stark hierarchisches Leitungsverhalten sind die Ursachen für diese zunehmende Entwicklung«, sagt Alsago. Und fügt hinzu: »Da die Beschäftigten selbst nicht gut geschützt sind, sind auch die Kinder und Jugendlichen nicht mehr geschützt.«

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Christine Behle kritisierte, dass Bund, Länder und Kommunen die Verantwortung nur immer hin- und herschöben. Die Kinder- und Jugendhilfe wird derzeit finanziell zu vier Fünfteln von den Kommunen getragen – mit der Folge, dass bei den derzeitigen Haushaltslöchern Soziale Arbeit oft nur noch nach Kassenlage angeboten werde, so Behle. Und das bedeute dann: Einrichtungen werden geschlossen, es fehlen Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen und die überlasteten Beschäftigten fliehen in andere Bereiche. Auf der Strecke blieben bei alldem natürlich vor allem die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen, die auch nach der Coronakrise konzentrierte Zuwendung benötigten.

»Wir brauchen Beziehungsarbeit und nicht mehr Messzahlen und Verschlankung«, kritisierte Verdi-Bundesfachgruppenleiterin Alsago angesichts »neuer« Ideen aus der Politik. Zudem sei die digitale Ausstattung in vielen Bereichen noch immer auf »Steinzeitniveau«, ergänzte Monika Stark-Murgia. Die Sozialarbeiterin aus Stuttgart teilte anlässlich des Aktionstages ebenfalls ihre Erfahrungen mit der Öffentlichkeit. 

Nach der Isolation durch Corona seien viele Kinder und Jugendliche derzeit zudem durch Ängste vor Kriegen und den Folgen der Klimakrise überfordert. »Sie bekommen das ja alles mit und die Zahl psychischer Erkrankungen auch bei Kindern steigt signifikant«, erläutert Stark-Murgia. Die Kinder hätten zudem oft einen Eins-zu-eins-Versorgungsbedarf, weil sie in der Gruppe gar nicht mehr klarkämen. Stattdessen aber sei in vielen Fällen aufgrund der genannten Probleme oft nur noch die Versorgung von Notfällen möglich und von Prävention gar keine Rede mehr. Auch sie betont: »Nicht die Kinder sind das Problem, sondern diese ganzen Rahmenbedingungen.« Daher mache sie sich große Sorgen, dass noch immer mehr Beschäftigte das Berufsfeld verlassen werden. »Es herrscht eine Perspektivlosigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe – wie in der gesamten Gesellschaft«, ist ihr Eindruck.

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.