»Ein großer Teil der Bevölkerung leidet bereits«

Die Zahl der Wohnungslosen steigt. Um das zu ändern, müssten Kommunen stärker auf dem Immobilienmarkt vertreten sein

Privatsphäre Fehlanzeige: In manchen Kommunen leben Familien über drei Jahre in Gemeinschaftsunterbringungen, weil sie keine Wohnung bekommen.
Privatsphäre Fehlanzeige: In manchen Kommunen leben Familien über drei Jahre in Gemeinschaftsunterbringungen, weil sie keine Wohnung bekommen.

Im Bundestagswahlkampf betonten einige Parteien, Wohnen sei »die soziale Frage unserer Zeit«. Schon vor mehr als 100 Jahren beschrieb der Philosoph Georg Simmel Obdach- und Wohnungslosigkeit als »extremstes Phänomen der Armut«. Hat sich die Gesellschaft denn nicht weiterentwickelt?

Simmels Aussage stimmt weiterhin, auch wenn sich eine Kontinuität vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart nicht so einfach ziehen lässt. Aber es gab immer wieder Phasen extremen Wohnraummangels, zum Beispiel in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik. In den 50er- und 60er-Jahren wurden dann in hohem Tempo Sozialwohnungen gebaut, sodass man in den 90ern in NRW den Eindruck hatte, die Wohnungsnot gelöst zu haben. Man konnte sich dezidiert um Menschen mit besonders hohem sozialarbeiterischen Betreuungsbedarf kümmern. Heute ist die Situation eine andere. Wohnungsnot kann jeden treffen, auch jene in der Mitte der Gesellschaft. Wobei das Thema natürlich nicht erst an diesem Punkt relevant wird. Weiterhin trifft es manche Menschen schneller. Jene, die bereits in Armut leben, ohne soziale Netzwerke oder mit psychischen Erkrankungen haben weniger unterstützende Ressourcen, die sie im Notfall auffangen können. Auch arme Menschen mit Migrationshintergrund haben per se keine Wohnung im Gepäck, wenn sie nach Deutschland kommen.

Interview

Joachim Krauß ist stellvertretender Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W).

Wohnungslose haben keinen sicheren Wohnort, manche kommen bei Bekannten oder in Notunterkünften unter. Andere sind obdachlos und leben auf der Straße. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) veröffentlicht regelmäßig Statistiken dazu. Wie entwickelten die sich in den vergangenen Jahren?

Wir sehen einen kontinuierlichen Anstieg Betroffener. Der Anteil älterer Menschen nimmt zu, aber Wohnungslosigkeit wird vor allem zu einem immer größeren weiblichen Problem, dem von Familien und jungen Menschen. Das ist besorgniserregend, denn wenn Kinder betroffen sind, hat das noch stärkere Folgen für die Entwicklung der Gesellschaft. Die starke Verknappung des sozialen Wohnraums führt zudem zu Konkurrenzsituationen auf dem Wohnungsmarkt, damit steigen die Diskriminierungserfahrungen.

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Auch deshalb steht der »Tag der wohnungslosen Menschen« dieses Jahr unter dem Motto »Politik in die Pflicht nehmen«. Was bedeutet das konkret?

Das Vorhandensein sozialen Wohnraums ist politisch determiniert. Es gibt zwar nun dieses Bekenntnis dazu, dass Wohnen »die soziale Frage« sei – man könnte das auch als Verteilungsfrage bezeichnen. Zugleich wird weiterhin mit Wohnraum spekuliert. Besonders ärmere Haushalte sind darauf angewiesen, dass er nicht als Ware dem Marktgeschehen überlassen wird. Dafür muss die Politik aber die Rahmenbedingungen ändern.

Die Worte Wohnungs- und Obdachlosigkeit kommen im Koalitionsvertrag aber nur je einmal vor. Zum Beispiel in Bezug auf den Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit, der diese bis 2030 abschaffen soll. Ein realistisches Ziel?

Es ist gut, dass das Thema auf bundespolitischer Ebene angekommen ist. Gleichwohl sind die Inhalte noch sehr unkonkret und die derzeitigen politischen Entscheidungen deuten eher auf einen sozialen Kahlschlag hin. Gleichzeitig erfordert die Situation schnelles Handeln. Wir wissen viele Menschen in Kommunen untergebracht, die eigentlich Anspruch auf eigenen Wohnraum hätten, aber nicht versorgt werden können. Das sind Familien, die drei Jahre und länger in Gemeinschaftsunterbringungen leben müssen, weil sie partout keine Wohnung bekommen.

Bisher scheint der wohnpolitische Schwerpunkt von Union und SPD auf dem Bau-Turbo zu liegen.

Nur durch Neubau werden wir das Problem nicht bewältigen. Erstens können wir uns das ökologisch gar nicht leisten, siehe Ressourcenverbrauch. Zweitens werden ohne rechtliche Maßnahmen benachteiligte Menschen davon kaum profitieren.

Durch die Ausweitung der Schonfristzahlung sollen künftig mehr Mieter*innen im Zahlungsverzug vor Kündigungen geschützt werden. Das ist immer noch der häufigste Grund für Wohnungslosigkeit. Hierzu hat Justizministerin Stefanie Hubig von der SPD doch schon einige Vorstöße gemacht …

Wann das in die Praxis umgesetzt wird und wie sich das auswirkt, wird sich zeigen. Wir kennen das ja schon von der Mietpreisbremse, dass alle rechtlichen Möglichkeiten, derlei Gesetze zu umgehen, von Eigentümern auch genutzt werden.

Die BAG W befindet sich oft in einer Doppelrolle – zum Beispiel wenn sie in Bündnissen der Bundesregierung mitdiskutiert und gleichzeitig gegen die Wohnpolitik auf der Straße demonstriert. Ist sie ein Interessenverband der Wohnungslosenhilfe oder Wohnungsloser?

Wir sind der Fachverband für die Wohnungslosenhilfe. Von daher haben wir nicht den Anspruch, eine Interessenvertretung von Einzelpersonen zu sein. Wir treten aber sehr wohl für die Interessen der Menschen in Wohnungsnot ein. Mit anderen Akteuren in Bündnissen zusammenzuarbeiten, ist wichtig. Zugleich ist klar, dass wir nicht die gleiche Macht wie die Wohnungswirtschaft haben, die mit am Tisch sitzt. Wir müssen aber im Gespräch bleiben und unsere Expertise einbringen. Sich dabei nicht politisch instrumentalisieren zu lassen, ist ein Spagat.

Sind die Interessen nicht vielfältig? Es gibt ja nicht den »einen« Wohnungslosen, sondern diverse Lebensrealitäten ...

Genau, es gibt eben nicht nur den älteren Mann, der einen Einkaufswagen schiebt, wie ihn vielleicht viele vor Augen haben. Obdachlosigkeit ist sichtbar, inzwischen ist aber im Bewusstsein angekommen, dass Wohnungslosigkeit viele unbemerkt trifft und sehr vielschichtig sein kann.

Gibt es trotzdem konkrete Forderungen, die allen zugutekommen?

Die Kommunen sollten stärker auf dem lokalen Wohnungsmarkt in Erscheinung treten. Das könnte zum Beispiel über ein Förderprogramm des Bundes passieren. Anderenfalls kann der Bund ja nicht in die Entscheidungshoheit der Kommunen eingreifen. So könnten die Präventionsfachstellen und Standards in der ordnungsrechtlichen Unterbringung gefördert werden. Ein Beispiel: Die Privatsphäre könnte durch Einzelzimmer gewahrt werden, wo man sich auch tagsüber aufhalten darf. Generell gilt: Der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum ist eine gesellschaftliche Frage. Gibt es ihn nicht, bemerken wir das zuerst bei Menschen mit weniger Ressourcen. Aber letztlich leidet darunter bereits ein großer Teil der Bevölkerung.

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