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Iran: Ziviler Ungehorsam gegen Repression

Während der Protestwelle von 2022 schien die Islamische Republik zu wanken

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 6 Min.
Nicht nur auf den Straßen der Hauptstadt Teheran sitzt das Kopftuch mittlerweile locker.
Nicht nur auf den Straßen der Hauptstadt Teheran sitzt das Kopftuch mittlerweile locker.

Was hat sich geändert im Iran nach dem gewaltsamen Tod der Kurdin Mahsa Jina Amini am 16. September 2022? Ist der Iran nach der Revolte, die das Land und die Machthaber in Teheran erschüttert hat, noch dasselbe Land? Fragte man den weltberühmten iranischen Dissidenten und Filmemacher Jafar Panahi, würde er nicht zögern, das zu verneinen. Der zu sechs Jahren Haft verurteilte Regisseur war im Februar 2023 gegen Kaution freigelassen worden. Der Tod von Mahsa Amini in Haft im Jahr 2022 habe eine Generation im Iran dazu veranlasst, angesichts der Unterdrückung durch die Islamische Republik nicht länger zu schweigen.

»Als sie ihr das Leben nahmen, wurde ein Schleier der Lügen gelüftet und eine Generation erhob sich und beschloss, nicht länger zu schweigen«, schrieb Panahi in einem Beitrag auf Instagram, wie der in London ansässige Auslandssender Iran International berichtete. Die auf die Proteste folgende staatliche Repression sollte den Widerstand brechen, »mit Morden und Einschüchterungen wollten sie Schweigen erzwingen«, so Panahi. Doch seit jenem Tag sei nichts mehr wie zuvor. »Wir sind nicht mehr die Menschen, die wir einmal waren. Das Blut von Mahsa und Hunderten anderen lässt nichts mehr normal erscheinen.«

Mahsa Amini sei auch nicht gestorben, so Panahi. »Sie lebt in jedem trotzigen Blick, in jedem Bild, das die Zensur durchbricht, in jedem Schrei, der Freiheit fordert. Sie atmet in den Augen der Mädchen, die ihr Haar im Wind wehen lassen«, sagte er.

Tatsächlich haben die Proteste einen Wandel bewirkt, der tiefer geht, als man an der Oberfläche absehen kann. Wenn in zahlreichen iranischen Städten viele Frauen wie selbstverständlich ohne Kopftuch durch die Straßen laufen, hat die Revolte vor allem den jüngeren Teil der Bevölkerung gestärkt, ihr Mut gemacht, dass Protest und Widerstand nicht vergebens sind. Der allenthalben zu beobachtende zivile Ungehorsam zeigt, was möglich ist. Die Menschen im Iran spüren, dass das iranische Regime geschwächt ist, speziell nach dem Krieg mit Israel, der unter den Machthabern die Angst vor dem nahenden Untergang verbreitet hat.

»In erster Linie dürfte die Frau-Leben-Freiheit-Bewegung die Opposition selbst verändert haben«, erklärt Tareq Sydiq gegenüber »nd«. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Konfliktforschung der Universität Marburg und hat zu sozialen Protesten im Iran promoviert. Das Ablegen des Kopftuchs sei zu einer alltäglicheren Praxis geworden, der Unmut mit dem System werde sichtbar. »Weite Teile der Bevölkerung kooperieren schlicht nicht mehr mit den Behörden bei der Durchsetzung einer Hidschab-Pflicht. Auch ein Regimewechsel wurde ernsthaft diskutiert, vorher in weiten Teilen der Opposition undenkbar, die eher auf Veränderung von innen gesetzt hatten«, ergänzt Sydiq.

Dass der Mut, gegen ungerechte Verhältnisse aufzustehen, gewachsen ist, lässt sich wohl auch an den zahlreichen Protesten wegen der Wasserknappheit und Misswirtschaft ablesen. In Irans größter Aluminiumfabrik streiken die Arbeiter seit 45 Tagen, wie verschiedene Medien berichten. Laut Iran Journal protestierten sie gegen schlechte Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne. Weil die Behörden ihre Forderungen missachten, seien die Arbeiter nun auch in den Hungerstreik getreten. Arbeiteraktivisten zufolge hat die Regierung die Teheraner Sicherheitspolizei zum Fabrikgelände in der zentraliranischen Großstadt Arak geschickt.

Ein Blick zurück: Vor genau drei Jahren, am 16. September 2022, wurde bekannt, dass eine 22-jährige kurdische Frau in Haft gestorben war. Drei Tage zuvor war sie von der sogenannten Sittenpolizei an einer U-Bahnstation festgenommen worden, weil das obligatorische Kopftuch nicht »ordnungsgemäß« gesessen habe. Nur zwei Stunden nach der Verhaftung wurde sie ins Krankenhaus gebracht und fiel ins Koma. Nach der offiziellen Version der Behörden habe sie infolge von Vorerkrankungen einen Herzinfarkt erlitten, doch die Familie weiß nichts von Vorerkrankungen. Röntgenaufnahmen, veröffentlicht vom Fernsehsender Iran International, wiesen auf Knochenbrüche, Blutungen und ein Hirnödem hin. Offenbar wurde sie nach der Festnahme misshandelt und geschlagen.

»Mahsa Amini lebt in jedem Bild, das die Zensur durchbricht, in jedem Schrei, der Freiheit fordert.«

Jafar Panahi Iranischer Filmemacher

Ihr Name Mahsa Amini war bald in aller Welt bekannt, für sich selber hatte sie den kurdischen Namen Jina gewählt. Nach ihrem gewaltsamen Tod begann sich in der iranischen Gesellschaft eine in diesen Ausmaßen bis dahin nicht gekannte Welle der Wut und des Widerstands gegen die diskriminierenden Regeln der Islamischen Republik auszubreiten. Vor allem Frauen in den iranischen Städten, die besonders unter dem strengen Regime einer »islamischen« Kleiderordnung leiden, gingen unter der Parole »Frau-Leben-Freiheit« auf die Straße, legten ihre Angst und demonstrativ das von oben verordnete Kopftuch ab, um ihren Protest auszudrücken. Bei den monatelangen Protesten wurden laut Menschenrechtsgruppen mindestens 551 Demonstranten, darunter 68 Kinder, getötet und Tausende festgenommen.

Die in Haft sitzende Aktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi sagte in einem Interview, dass »die Bewegung lebendig und aktiv ist und ihre Vitalität im Gefüge der Gesellschaft sichtbar ist«. Der Widerstand der Frauen gegen die Hidschab-Regeln habe die staatliche Kontrolle geschwächt.

Doch es wäre verfehlt zu meinen, die Regierenden hätten nachgelassen in ihrem Bemühen, jeden Dissens mit der Islamischen Republik zu unterdrücken. Erst vor wenigen Tagen, am 6. September, wurde ein junger Mann hingerichtet, der während der Protestbewegung Frau-Leben-Freiheit an einem tödlichen Angriff auf Sicherheitskräfte beteiligt gewesen sein soll. Das berichtete Mizan, die offizielle Nachrichtenagentur der iranischen Justiz, und nannte den Namen des Mannes: Mehran Bahramian. Er soll demnach Berichten zufolge im Dezember 2022 im Bezirk Semirom in der Provinz Isfahan das Feuer auf ein Sicherheitsfahrzeug eröffnet haben. Die Hinrichtung war laut Menschenrechtsbeobachtern der zwölfte bekannte Fall einer Person, die im Zusammenhang mit den Protesten von 2022 hingerichtet wurde.

Die in Norwegen ansässige Organisation Iran Human Rights hat seit Januar mindestens 913 Hinrichtungen im Iran dokumentiert. Im vergangenen Jahr vollstreckte der Iran insgesamt 975 Todesurteile und lag damit weltweit an zweiter Stelle hinter China. Seit dem Krieg mit Israel im Juni läuft eine »Welle der Unterdrückung«, sagen Human Rights Watch und Amnesty International: Über 20 000 Menschen seien während und nach dem Konflikt verhaftet worden.

Tareq Sydiq konstatiert der Islamischen Republik eine gewisse Flexibilität, die sie auch durch die dezentral organisierten Proteste seit 2022 gebracht habe. Neue Formen der Repression und Überwachung hätten die alten abgelöst. »Vieles wird sich daran entscheiden, wie effektiv diese neu aufgebauten Überwachungssysteme sind und wie effektiv der Versuch ist, die Legitimität des Systems aus Sicht der Bevölkerung wieder herzustellen«, erläutert er »nd«. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass Proteste jederzeit zu einem neuen Anlass wieder ausbrechen können, solange der Unmut bestehen bleibe. »Die offene Frage bleibt, wie viele solcher Episoden das System überstehen kann, ohne einen Kurswechsel einzuleiten oder einen Umsturz zu provozieren.«

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