Ein Furz-Konzert des Grauens

Doch, doch, die Sprache hat was zu sagen: Drei Literatur-Neuerscheinungen der experimentellen Art

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Gegen die Verramschung: Eine eigene Sprache finden muss man auch für Mohnblumen in schöner Landschaft.
Gegen die Verramschung: Eine eigene Sprache finden muss man auch für Mohnblumen in schöner Landschaft.

Erbauliche Romane sind der Feind. Wenn schöne Seelen lustige Abenteuer des Herzens erleben, damit die Leserschaft am Feierabend noch im Sesselchen ein tätiges Leben voller Gefühle in eher einfacher Sprache vorgeführt bekommt, dann ist das oft Ramsch. Der österreichische Schriftsteller Florian Neuner hat als Psychogeograf das Ruhrgebiet und den US-amerikanischen Rust-Belt abgeschritten, er hält den ästhetischen Avantgarden als Kulturjournalist die Treue. Kürzlich veröffentlichte er ein Buch mit dem kompromisslosen Titel »Die endgültige Totalverramschung. Ungekürzte Ausgabe«. Darin montiert er aus unzähligen populären Romanen exzerpierte Sätze zu einem äußerst unterhaltsamen Furz-Konzert des Grauens.

In den drei Kapiteln »Handlung«, »Figurenrede« und »Beschreibung« demonstriert der Verfasser, was passiert, wenn Autoren die Sprache nicht als besonders künstlerisches Material verstehen, sondern deren Widerständigkeit einebnen. In den Kaskaden banalen Blablas wird nichts originell geformt, um auf dichterischen Wegen Erkenntnisse über die Wirklichkeit herzustellen, sondern die Sätze müssen als billiger Bedeutungsträger für fantasielose Handlungen, für Gerede und irgendwelche Ansichten herhalten.

Diese Lektüre kann auch als Montage Schmerzen bereiten, wirkt aber doch letztlich befreiend. Denn Neuner versteht mit dem Müll zu spielen. Die Zitate sind nicht kenntlich gemacht, es geht also nicht darum, zu beweisen, wie schlecht Erfolgsromancier xy in Wahrheit ist. Stattdessen entwickeln die syntaktischen Gebilde, Adjektive, Dialog-Fetzen ihre eigene Dynamik, entsteht aus Normiertem eine überlegte Unform: »Die Erwartungen sind hoch. Freunde & Bekanntschaften suchen sie unter Außenseitern & werden dabei auch immer wieder mit der deutschen Geschichte konfrontiert. Die Auswanderer entwickeln verzweifelte Bewältigungsstrategien & stellen sich ihren Lebenslügen. Schließlich kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen den Männern. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Die Gefühle schlagen unerwartet hohe Wellen.«

Das Bedürfnis, passiv ein Leben linear erzählt zu bekommen, um einen Welt-Ersatz in der Literatur zu haben, wird in Neuners »Totalverramschung« radikal infrage gestellt. Ein ganz anderer radikaler Fall ist der Band »Haiku« mit dem dreifachen Untertitel »(for a season) (per una stagione) (für eine Jahreszeit)« des italienischen Dichters Andrea Zanzotto (1921–2011). Als junger Mann kämpfte er im antifaschistischen Widerstand, arbeitete dann als Kellner in der Schweiz und auch als Lehrer für alte Sprachen in Venetien. Die Landschaft, die Etymologie und der Sinn und Unsinn der Dichtung beschäftigten ihn sein Leben lang, genauso wie seine eigenen seelischen Leiden. Mit der sprachfixierten Psychoanalyse von Lacan war er vertraut.

Die von ihm selbst als »Pseudohaiku« bezeichneten Textgebilde, die er 1984 in einem von ihm so genannten Minienglisch aufschrieb, bekamen lang nur wenige zu Gesicht. Dank Theresia Prammer, die u. a. auch Pasolinis Lyrik übersetzt hat, liegen sie nun erstmals auf Deutsch vor. Sie sind Zeugnis vom Kaum-noch-sprechen-Können in einer schweren Depression und davon, wie eine Fremdsprache als Umweg wieder ermöglicht zu schreiben. In ihrem lesenswerten Nachwort ordnet Prammer das Haiku-Konvolut in das Werk des Italieners kenntnisreich und stellt sprachphilosophische Überlegungen an. Zanzotto, dem die verschwindenden italienischen Dialekte so nah waren, »wendet die Welt- und Wissenschaftssprache gegen ihr eigenes Klischee«, schreibt Prammer. »Als könnte allein die Sprache, die sich entzieht, auch jene sein, die eine Deckung zwischen Wort und Ding wieder ermöglicht«. Es finden sich »Mohnblumen«, auf Englisch »poppies«, ein »Star System« taucht mehrmals auf und auch Hamlet wird zitiert »Sein oder nicht sein / ein Augenblitz / in einem sprechenden Gesicht / Lippen eines Mundes, der ›Sein‹ schreit«.

Die Lyrikerin Theresa Luserke bezieht sich in ihrem Debüt »ist liegt hinterm haus« nicht auf Shakespeare, sondern auf so unterschiedliche Textquellen wie das Matthäus-Evangelium, das Werk der Heiligen Teresa von Avilá, Lyrics der Band Karat, den barocken Andreas Gryphius oder die Dichterinnen Elke Erb und Monika Rinck. Luserke haut nicht expressionistisch auf den Schreibtisch, sondern arbeitet mit kleinen Bedeutungsverschiebungen, Permutationen, baut Neologismen, die feste grammatische Konstruktionen wackeln machen. Sie lässt der deutschen Syntax große Freiheiten, streut Englischsprachiges ein, setzt gefettete Titel auf eine Seite, ohne ein Gedicht drunter zu schreiben. Vielleicht ist das immer der Anfang eines Mini-Zyklus, vielleicht nur Raum für Stille zwischen den ganz unterschiedlich gruppierten Versen. Keine Seite bleibt verwaist.

Luserke findet viele Worte für den flüchtigen Schnee, betreibt Körperbeobachtungen, beschäftigt sich mit Wachhunden, Pferden wie Rehen und verabschiedet ihre Leserschaft mit der »lieben nachricht von smartphone«: »du bist so ein schönes wetter!« Man denkt an Verfahren der »écriture féminine«, die Hauptsätze mit unverrückbarem Subjekt vermeidet; man denkt aber auch an die sprachkritischen Verfahrensarten der Wiener Schule und es gibt auch Platz für alltägliche Formlosigkeit.

Die Sprache wird nicht normiert und beherrscht, sondern sorgsam von der Leine gelassen: »die fesselnde rede / hunde hängen daran // oder sind es lämmer? / oder schweine? / hängen sie daran? / oder können sie die figur auch erdrosseln den / der spricht?«

Florian Neuner: Die endgültige Totalverramschung. Ritter. 120 S., br., 15 €.
Andrea Zanzotto: Haiku. Übs. u. hrsg. v. Theresia Prammer. Klever. 110 S., br., 20 €.
Theresa Luserke: ist liegt hinterm haus. roughbooks. 72 S., br. 12 €.

- Anzeige -

Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.

Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen

Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.