Draußen brennt die Welt, drinnen laufen die Routinen-Tutorials

Nadia Shehadeh ist von einem neuen Social-Media-Trend gefesselt: dem sogenannten September Lock-In

Zuhause ist es eben am schönsten.
Zuhause ist es eben am schönsten.

Es ist September, vielleicht der ätzendste September seit langem, und die Welt fühlt sich an wie eine apokalyptische Fernsehserie mit immer neuen ominösen Front-Charakteren – von denen ich bis vor etwa zwei Wochen noch nie etwas gehört hatte. Den rechtskonservativen Studienabbrecher Charlie Kirk hatte ich nie auf dem Schirm, und die Befragungen des US-amerikanischer FBI-Boss Kash Patel im Rahmen des »Senate Judiciary Commitee Oversight Hearing« Mitte September sind meine neue Abendunterhaltung. Man selbst sitzt ja hilflos im Publikum – und es gibt seit gefühlt 2020 keinen Notausgang. Da trifft es sich gut zuzuhören, wie Patel auf den Pott gesetzt wird, indem man ihn zum Beispiel zum Thema »Ausflug (eventuell auf Staatskosten) mit Mel Gibson bei einem UFC-Kampf in Las Vegas« ausquetscht. Herrlich!

Aber das ist nicht mein einziges September-Faible: Mich fesselt außerdem, wie sich vor allem junge Menschen in Scharen auf Social Media einem Trend anschließen, der sich »September Lock-In« nennt. Damit gemeint ist eine Art freiwilliges Einschließen für den Monat September, um die eigenen Routinen zu optimieren. Gepredigt wird eine Mischung aus Askese, Bewegung, Internetnutzungsreduktion und gesunder Ernährung. Ein bisschen Quatsch ist dosiert erlaubt: zum Beispiel sinnloses Scrollen im Internet oder Serien glotzen. Aber, halt vielleicht zeitlich begrenzter! Sozusagen das Gegenprogramm zu kollektiver Eskalation angesichts der elenden Zeiten, und außerdem die perfekte Mischung aus Selbstverhäuslichung, Askese und »brain rotting«, getarnt als produktiver Neuanfang.

Also genau mein Ding. Denn ich kenne diese Versuchung: sich in den eigenen vier Wänden verschanzen, morgens Zitronenwasser ballern, To-Do-Listen und Proteingerichte herstellen in der Hoffnung, der private Mikrokosmos könne mit Alltagsdisziplin gerettet werden, während draußen das Makrosystem kollabiert. Vielleicht kuschelt man dabei noch einen Labubu. Und Ich verstehe, was daran so verheißungsvoll ist: Die eigene Biographie als Bastelprojekt verstehen, das immer noch weiter optimiert werden kann, egal, wie trostlos die strukturellen Bedingungen aussehen, erscheint als Fluchtweg. Und so kann sich auch endloses Scrollen durch Morgenroutine-Videos auf YouTube und Sport- und Lern-Tutorials anfühlen wie eine widerständige Handlung auf einer einsamen Rettungsleiter. Ganz nach dem Motto: Wenn mir die Welt keine Zukunft gibt, dann baue ich mir wenigstens ein gutes Notizbuchsystem und ein paar Bauchmuskeln.

Nadia Shehadeh
Bielefeld

Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«.

Dabei ist der »September Lock-In« keine brandneue Erfindung junger Leute, sondern die zeitgemäße Variation eines uralten Rückzugsrituals. Früher ging man ins Kloster, heute ins Kinderzimmer. Früher sprach man von »Kontemplation«, heute von »brain rot with purpose«, früher betete man zu Gott, heute wird meditiert. Während Mönche früher durchaus glaubten, durch Fasten die Menschheit retten zu können, ist der »September Lock-In« ein verzweifelt-ironisches Selbstexperiment, das schon nach zwei Wochen aufgrund der Verquickung von Algorithmen, Uber-Eats-Gutscheinen und der schlichten Tatsache scheitert, dass man nicht den ganzen September 10 000 Schritte am Tag im Kreis in der eigenen Wohnung erlaufen kann.

Auf der einen Seite Rückzug ins Private als Reaktion auf eine Welt, die man nicht mehr kontrollieren kann. Auf der anderen Seite das Festhalten an neoliberalen Optimierungsimperativen, die uns eintrichtern, dass wir nur einen weiteren Habit Tracker entfernt vom guten und sicheren Leben sind. Und in dieser Summe ergibt sich ein Generationenporträt: Junge Menschen zwischen doomscrolling und journaling. Eine Metapher für eine Gesellschaft, die derzeit komplett blockiert scheint, wirklich echte strukturelle Verbesserungen zu schaffen.

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