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Charlie Kirk: Grausamkeit im Namen des Guten
Christoph Ruf beobachtet die Reaktionen auf die Ermordung des Amerikaners Charlie Kirk
Viel wäre gewonnen, wenn man wüsste, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Menschen rechtsradikal werden. Man bekäme dann vielleicht auch wieder erfreulichere Wahlergebnisse. Immerhin: Entwicklungspsychologen und Menschen, die in der frühkindlichen Erziehung arbeiten, sind sich einig, dass Kinder mit ausgeprägtem Sozialverhalten und der Fähigkeit zu Empathie besser immunisiert sind gegen Ideologien, die das Nach-unten-Treten zum Programm erheben. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es in der kindlichen Natur liegt, nur schwer ansehen zu können, wie ein Rudel Löwen eine Antilope zu Tode hetzt. Später sollte man dann verstehen, dass das, was die Löwen tun, moralisch so zu beurteilen ist, wie wenn ein Gnu grast. Mitleid mit der Antilope darf man aber auch dann noch empfinden.
Ich frage mich deshalb, was schiefgelaufen ist, wenn Menschen als ersten Reflex auf die Ermordung von Charlie Kirk mit der Häme reagieren, die tausendfach im Netz zu beobachten war. Das Bild von einem Menschen, der hinterrücks erschossen niedersinkt, das Wissen, dass der Mann verheiratet war und Kinder hatte – und die erste Reaktion ist ein verächtliches »selbst schuld«? Eine hasserfülltere Reaktion kann ich mir nicht vorstellen. Interessant, wenn man nicht mal merkt, dass das an Gefühlskälte eine Steigerung all dessen ist, was man dem Toten an »hate speech« ankreidet.
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.
Gepriesen sei die Kunst des Einfach-mal-die-Fresse-Haltens, die im Digitalzeitalter offenbar schwerer fällt als je zuvor. Soll übrigens auch im journalistischen Alltag helfen. Auch in seriösen Medien wurde kurz nach der Erwähnung von Kirks Tod aufgezählt, welche Thesen er vertreten habe. Auch hier fehlte oft nur noch das »selbst schuld«. In einer Lokalzeitung fehlte das einige Wochen zuvor nicht, da wurde in einem Bericht über das islamistische Attentat auf Michael Stürzenberger in Mannheim offen insinuiert, der Mann sei mit seinen Thesen ja selbst daran schuld, dass er fast ermordet worden wäre. Dass wohlmeinende Linke es nicht immer mit der Logik haben, ist so traurig wie wahr. Wenn die Warnung vor einem fanatisierten Islam mit dem Mordanschlag eines fanatisierten Islamisten beantwortet wird, spricht das meines Erachtens argumentativ nicht wirklich gegen das Opfer. Aber das nur am Rande.
Stürzenberger vertritt teils irre Ansichten und bei den Thesen, die Charlie Kirk beispielsweise zur Abtreibung vertrat, wird mir schlecht. Mindestens genauso viel Angst wie die Stürzenbergers und Kirks dieser Welt machen mir aber Menschen, die es feixend abfeiern, wenn Menschen erschossen oder erstochen werden. Genau deshalb ist es auch etwas anderes, ob ich – von mir aus militant – gegen rechte Klamottenmarken vorgehe. Oder ob ich zu mehreren auf eine wehrlose Frau eintrete, die in einem solchen Laden arbeitet.
Wer Grausamkeit im Namen des Guten gutheißt, verfolgt die gleiche Logik, die auch die Befürworter der Todesstrafe ins Feld führen. Genau die habe der mutmaßliche Mörder Tyler Robinson verdient, meint Donald Trump. Und der hat ganz sicher schon als Vierjähriger mit großem Vergnügen beobachtet, wie Antilopen gejagt werden.
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