Milos Rau an der Schaubühne: Jeder Tote ein Bild

»Die Seherin« von Milo Rau führt den Zynismus im Umgang mit Krieg vor Augen. Nun wird die Inszenierung an der Berliner Schaubühne gezeigt

Wenn der Blick zum Gegenstand der Betrachtung wird: Ursina Lardi und Hassan Azad
Wenn der Blick zum Gegenstand der Betrachtung wird: Ursina Lardi und Hassan Azad

Der Theatermacher Milo Rau ist ein Marketingexperte. Er weiß, wie man – auch jenseits der Bühne – Dinge in Szene setzt. Nahezu alles kann zum Teil der Inszenierung werden, natürlich in eigener, also in Raus, Sache.

Das gilt auch für eine unangenehme juristische Auseinandersetzung, mit der der Verbrecher-Verlag zu kämpfen hatte, der seit jeher Raus publizistische Unternehmungen herausbringt, die neben den Theaterarbeiten entstehen. Das Buch »Widerstand hat keine Form, Widerstand ist die Form«, das Texte des Regisseurs sammelt, wurde zum Gegenstand einer Klage. Österreichs ehemaliger Vizekanzler und Rechtsaußenpolitiker H. C. Strache sah sich in einer dort abgedruckten Rede verunglimpft, hatte Rau darin doch behauptet, Strache singe am Morgen das geschmacklose Burschenschafter-Lied »Wir schaffen die siebte Million« und suche am Nachmittag den israelischen Gedenkort Yad Vashem auf.

Es handelt sich hierbei natürlich um eine Verdichtung der Ereignisse, fast schon um ein literarisches Vorgehen zur Verdeutlichung eines neurechten Politikstils, der von seiner Widersprüchlichkeit profitiert. Strache hat sich dagegen erfolgreich zur Wehr gesetzt.

Rau jedenfalls hat die unerfreuliche Klage zum Anlass für eine Pressekonferenz genutzt, die am letzten Freitag, unmittelbar vor der Berliner Premiere seiner Theaterproduktion »Die Seherin« an der Schaubühne stattfand. Der Regisseur ist ein Mann, der zu Superlativen neigt: Man musste schon fast den Eindruck bekommen, an Rau werde ein Exempel statuiert. Und nun zeige sich der Untergang zumindest der Meinungsfreiheit, wenn nicht der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Ganzen. Man ahnt, dass solche Auftritte dem Abverkauf der zweiten, dann selbstredend korrigierten Buchauflage sehr zuträglich sein dürften.

Liest man die Ankündigungen zu Raus Schauspielinszenierungen, glaubt man bei der Lektüre schon genau zu wissen, was einen erwartet. Der Theatermacher beherrscht seine Maschen – und das Publikum kennt sie mit den Jahren sämtlich. Rau inszeniert mal wieder einen theatralen Gerichtsprozess; Rau jettet durch die Welt und verstrickt die Eindrücke aus einer Krisenregion zu einem Theaterabend; oder Rau lässt ein weiteres Mal Kinder auf der Bühne Kindesmorde nachspielen.

Und wenn man sich der vermeintlichen Vorhersehbarkeit zum Trotz dann doch aufmacht ins Theater, wird man von Milo Rau mitunter noch überrascht, vielleicht sogar verblüfft durch die Ernsthaftigkeit, mit der er sich künstlerisch seinen immer politischen Anliegen widmet, und durch die Komplexität seiner Arbeiten, die Gewissenhaftigkeit in der Anwendung theatraler Mittel.

Auch bei »Die Seherin« scheint vieles bereits allzu klar zu sein, bevor man den Zuschauersaal betritt. Die Schauspielerin Ursina Lardi spielt eine Schauspielerin, die die Kriegsgebiete dieser Welt sieht. Sie führt uns den Zynismus menschlicher Lebensweisen vor Augen. Wortgewaltig, anrührend. Eine fast leere Bühne. Reduziertes Spiel. Aber die ganz großen Fragen, schonungslos gestellt. Gab es nicht genau das an ebendiesem Ort in diesem Arbeitsgefüge schon ein-, zweimal?

Mag ja sein. Die Kriege, die uns wie in Serie in den letzten Jahrzehnten begegnen und denen wir aus der Ferne mit gebanntem Entsetzen zusehen, die Gewaltfaszination, die Abstumpfung der Menschen haben als Themen keinen Novitätenwert. Alles altbekannt. Aber das Theater ist auch ein altes Medium, das sich an den alten Menschheitsfragen abarbeitet.

Und sieht man Lardi spielen, folgt man Raus Geschichte, die in Ko-Autorschaft mit der Darstellerin entstanden ist, sind die Vorbehalte gegen das Selbstmarketing des Regisseurs und die inneren Widerstände gegen seine katastrophentouristische Kunstpraxis vergessen.

Schon als Kind sei sie von Gewaltbildern fasziniert gewesen, erzählt die Figur auf der Bühne. Durch Zufall sei sie, eigentlich eine Schauspielerin, zur Kriegsfotografie gekommen. Und dann geht es los: Ex-Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Sudan, Libyen. Sie hat alles gesehen. Leichensäcke, Explosionen, tote Kinder. Und sie weiß, wie man all das fotografieren muss. Um die Inszenierung von Gewalt dreht sich hier alles. Und in dieser Medienmaschinerie spielt der Abend seine eigene, sehr selbstreflexive, kluge Rolle. Das ist ein Prinzip, das Milo Rau beherrscht und das nur oberflächlich als Masche kenntlich wird.

Die Bilder vom Grauen, die das Publikum nicht sieht, treffen durch ihre bloße kalte Beschreibung. Es ist der Blick derjenigen, die sie produziert, der selbst zur Waffe wird. Wir hören die Worte einer mehrfach gebrochenen Frau, angereichert durch Versatzstücke antiker Literatur. Lardi spielt die fiktive, aber glaubhafte Rolle mit nachwirkender Intensität.

Und sie bekommt auf der Leinwand einen Mitspieler: Hassan Azad kommt nicht vom Theater. Er repräsentiert hier sich selbst und erzählt seine Geschichte. Er war da, als der IS den Irak besetzt hat, wurde Zeuge seiner Schreckensherrschaft. Das Todesurteil, das man gegen ihn wegen eines vermeintlichen Diebstahls verhängt hatte, wurde umgewandelt. Seine rechte Hand wurde ihm auf einer Straßenkreuzung unter dem Jubel des Mobs durch zwei Hiebe abgeschlagen. Eine Sensation auch für das bluthungrige Youtube-Publikum. Hassan Azad zeigt dem Publikum etwas, das man nicht spielen kann: seinen verstümmelten Arm.

Zu Recht wird der darstellenden Kunst vorgeworfen, kaum Antworten auf (oder zumindest Fragen an) unsere kriegerischen Zeiten zu finden. Milo Raus Theater ist eine verstörende Ausnahme.

Nächste Vorstellungen: 23., 24.9. und 3.10.
www.schaubuehne.de

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