Die wahre Staatsräson

Stephan Kaufmann über das Allerheiligste des Kapitalismus

Immer im Dienst des Wachstums: Bundeskanzler Friedrich Merz beim Rundgang durch die internationale Automesse IAA Mobility.
Immer im Dienst des Wachstums: Bundeskanzler Friedrich Merz beim Rundgang durch die internationale Automesse IAA Mobility.

In jüngster Zeit ist viel darüber gestritten worden, ob die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson ist oder sein sollte. Die »historische Verantwortung für die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsräson meines Landes«, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 gesagt, und ein ähnlicher Passus fand sich auch im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. Nun hat Staatsräson keine einheitliche Definition. Sie benennt vage ein vorrangiges Staatsinteresse oder eine Notwendigkeit – einen Grundsatz, der irgendwie neben oder gar über den nationalen Rechtsvorschriften steht und das politische Handeln leitet.

Ob die »Sicherheit Israels« diesen Rang hat, darüber wird wie gesagt gestritten. Unumstritten ist dagegen ein anderes staatliches Interesse, das nirgendwo ausdrücklich kodifiziert ist, das aber unabhängig von außen- oder innenpolitischen Konjunkturen als Leitmotiv wirkt und daher viel eher als Staatsräson bezeichnet werden kann: das Wirtschaftswachstum.

Stephan Kaufmann
Stephan Kaufmann
Foto: Andreas Domma

Stephan Kaufmann ist Wirtschaftsredakteur bei nd.DieWoche.

Macht und Wirkung gewinnt dieses Wachstum nicht, weil es explizit als gesellschaftliches Ziel festgelegt ist. Sondern weil es schlicht als Voraussetzung für alles gilt. Nicht nur für den deutschen »Wohlstand«, sondern auch für Arbeitsplätze, Einkommen und Steuereinnahmen, für die Solidität der Sozialkassen, für den Klimaschutz und für die militärische Stärke des Landes, die wiederum Grundlage für Sicherheit und geopolitischen Einfluss ist. Nicht umsonst spielt die Wirtschaft in den Strategien zur »Nationalen Sicherheit« die tragende Rolle.

»Die Wirtschaft muss wieder wachsen, damit alle anderen Vorhaben der Bundesregierung, etwa im Bereich der Sozialpolitik, möglich sind«, sagte Bundeskanzler Friedrich Merz diese Woche. Nur in einer auf Wachstum ausgerichteten Volkswirtschaft würden die Mittel gewonnen, »die wir brauchen, um Infrastruktur zu finanzieren, Solidarität zu üben und soziale Sicherheit auf Dauer zu gewährleisten«.

»Wirtschaft ist nicht alles«, sagte bereits Ludwig Erhard, der »Vater« des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders, »aber ohne Wirtschaft ist alles nichts« – eine Formulierung, die einerseits nahelegt, die Wirtschaft und ihr Wachstum seien lediglich das Mittel zur Erreichung der eigentlichen gesellschaftlichen Zwecke, welche auch immer das sein sollen. Gleichzeitig aber setzt sie das Wachstum dann noch als vorrangiges Ziel, weil es die notwendige Bedingung für schlicht alles sein soll.

Nun ist Wirtschaftwachstum ein nebulöser Begriff. Quantifiziert wird es im Bruttoinlandsprodukt, was ein riesiger Gemischtwarenladen ist, bei dem nie ganz klar ist, ob hier Gegenstände und Dienstleistungen addiert sein sollen oder Geldsummen – von welcher Qualität also die »Werte« sind, die ständig »geschöpft« werden müssen.

Analytisch deutlich weniger schlampig ist dagegen der Begriff Kapitalakkumulation, also das Anhäufen von Wertsummen, die sich verwerten, also vermehren. Benannt sind damit auch die maßgeblichen Subjekte: nämlich die Unternehmen. Dass es um sie und das Maß ihres Wachstums – die Kapitalrendite – geht, das zeigt sich deutlich an den »Strukturreformen«, die sich die Bundesregierung derzeit vorgenommen hat. Denn die »Strukturen«, die hier »reformiert« werden sollen, sind nichts anderes als Kosten, die den Unternehmen erspart werden sollen.

- Anzeige -

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -