Papier ist geduldig

Die Umsetzung des 21-Punkte-Plans der US-Regierung für Frieden im Gazastreifen könnte an vielen Hürden scheitern

Gaza-Stadt gleich zunehmend einem einzigen Trümmerfeld: Menschen gehen durch eine Straße, deren Gebäude durch israelische Bombardierungen zerstört wurden.
Gaza-Stadt gleich zunehmend einem einzigen Trümmerfeld: Menschen gehen durch eine Straße, deren Gebäude durch israelische Bombardierungen zerstört wurden.

Am Montag schlugen in fast allen Flüchtlingslagern der 42 Kilometer langen Enklave im Minutentakt Raketen und Granaten ein. 50 Tote und 184 Verletzte zählte das Gesundheitsministerium am Morgen in 24 Stunden, ähnlich wie fast jeden Tag seit Beginn der Offensive auf Gaza-Stadt.

Vor allem der Ostteil der Großstadt ähnelt zunehmend einem Trümmerfeld. Israelische Panzer sind mittlerweile in das Stadtzentrum vorgerückt, mehr als 400 000 Menschen haben sich auf den Weg in den Süden gemacht, oft nur mit dem, was sie am Leibe tragen oder in Plastiktüten mitschleppen konnten. Bei ihrem Vormarsch filmten israelische Soldaten eine neue Zerstörungstaktik, die bei den Bewohnern von Gaza-Stadt ein größeres Gesprächsthema ist als das Treffen zwischen Benjamin Netanjahu und Donald Trump in Washington.

In den von israelischen Soldaten auf sozialen Medien geteilten Aufnahmen ist ein Bagger zu sehen, auf dessen Schaufel ein Flammenwerfer montiert ist. Nachdem der Fahrer den Eingang eines Mehrfamilienhauses zum Einsturz gebracht hat, sprüht er eine brennende Flüssigkeit in das Wohnzimmer einer geflohenen palästinensischen Familie. Die Aufnahmen zeigen, wie das Feuer auch auf die anderen Stockwerke übergreift.

Überall in den von der israelischen Armee eroberten Stadtteilen sind ähnliche Bilder zu sehen. Im Stadtteil Al-Nasser durchsuchten Sanitäter am Montag die Trümmer nach Leichen oder Verletzten, nachdem sich israelische Panzer nach Sonnenaufgang zurückgezogen hatten.

Israels Finanzminister Bezalel Smotrich schickte am Sonntag eine Grußbotschaft an Benjamin Netanjahu. Er wünsche dem Premier großen Erfolg bei dessen Verhandlungen mit Donald Trump, so Smotrich, der die klammheimliche Annexion aller palästinensischen Gebiete zu seinem Markenzeichen gemacht hat.

Seinem Koalitionspartner Netanjahu hat er rote Linien gesetzt, die eine Annahme von Trumps 21-Punkte-Plan unmöglich macht: Smotrich und andere prominente Regierungsmitglieder wollen den Abzug der Hamas aus Gaza, nicht nur der Führungselite. Zudem bestehen sie auf dem Verbleib der Armee im sogenannten Philadelphi-Korridor entlang der Grenze zu Ägypten. »Die Idee eines palästinensischen Staates ist für immer vom Tisch, ebenso eine Kooperation mit der Automiebehörde«, so Smotrich in einem Interview mit dem TV-Sender i24, in dem auch der führende Likud-Politiker und Vize-Parlamentspräsident Nissom Vatiri seine Vision von Gaza und dem Westjordanland beschrieb: »Es ist in Israels Interesse, dass es dort gar keine Araber mehr gibt. Wenn wir sie deportieren können, werden wir es tun.«

Im Gazastreifen nimmt man Äußerungen wie diese sehr ernst. »Ich fürchte, dass die Aussicht auf ein Kriegsende die Radikalen in Israel dazu motivieren wird, ihren Plan schneller umzusetzen«, sagt eine Mitarbeiterin einer internationalen Hilfsorganisation. Sie möchte lieber anonym bleiben.

Die israelischen Behörden haben viele humanitäre Helfer aus dem Gazastreifen verbannt und die Bedingungen für ihre Rückkehr enorm erschwert. Doch ohne die Wiederaufnahme der Arbeit von Oxfam, Worldkitchen oder auch des Palästinenserhilfswerks UNWRA wird das in Trumps 21-Punkte-Plan vorgesehene Ende der Lebensmittelverteilung durch die Söldner der privaten Stiftung Gaza Humanitarian Foundation (GHF) Makulatur bleiben.

Wer zukünftig in Gaza helfen möchte, muss sämtliche Personendaten von palästinensischen Mitarbeitern angeben und mit der GHF kooperieren. Die US-amerikanische NGO Rahma erhielt einen Vorgeschmack davon, wie schnell diese Zusammenarbeit enden kann: Sie hatte Hilfspakete zur Verteilung an die GHF übergeben. Die GHF nutzte das für nicht abgesprochene Eigenwerbung mit dem Logo von Rahma. Auf sozialen Medien erschien Rahma plötzlich als Helfershelfer der amerikanisch-israelischen GHF, in deren vier Verteilzentren laut palästinensischen Angaben Hungernde erschossen worden waren. Nach Kritik an der Aktion wurde Rahma, die seit 2017 in Gaza aktiv ist, die gerade neu erteilte Lizenz entzogen, berichtet die unabhängige Nachrichtenwebseite +972.

Lamia Karkur, Ärztin im Nasser-Krankenhaus in Khan Junis, bleibt daher skeptisch, was die Umsetzung von Trumps Friedensplans angeht: »Auch wenn ein Waffenstillstand, das Wiederhochfahren der humanitären Hilfe für Gaza oder der Einsatz von internationalen Friedenstruppen beschlossen werden sollte: Ohne internationalen Druck werden Radikale wie Smotrich die Umsetzung zu verhindern wissen. Papier ist geduldig.«

Die israelische Armee warnte Vertreter internationaler Hilfsorganisationen, in den in der Mitte des Gazastreifens liegenden Flüchtlingslagern Nuseirat und Bureidsch langfristig Hilfe zu leisten. Offenbar will man die Flüchtlinge weiter an die ägyptische Grenze treiben. Yaakov Amidror, Ex-Sicherheitsberater von Benjamin Netanjahu, sieht Nuseirat und Bureidsch bereits als Ziel der nächsten israelischen Offensive, »nachdem jeder Zentimeter von Gaza-Stadt sechs Monate lang durchkämmt wurde«. Ähnlich hatte sich Netanjahu im August geäußert. Die Unterzeichnung eines Waffenstillstands scheint, allen Spekulationen zum Trotz, in weiter Ferne.

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