Werbung

»Die Polizei tut, was sie tut, weil sie weiß, dass sie es kann«

Nadine Saeed und Luke Harrow über Opfer ohne Lobby und Strukturen, die Machtmissbrauch von Beamten fördern

  • Interview: Katharina Schoenes
  • Lesedauer: 8 Min.
Polizisten sind nicht nur körperlich gut geschützt. Sie können auch damit rechnen, dass illegale Gewaltanwendung keine Konsequenzen hat.
Polizisten sind nicht nur körperlich gut geschützt. Sie können auch damit rechnen, dass illegale Gewaltanwendung keine Konsequenzen hat.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit tödlicher Polizeigewalt. Wie nehmen Sie die Auseinandersetzung damit in Deutschland in den vergangenen Jahren wahr?

Nadine Saeed: Ich würde die Frage gerne aus der Perspektive des Oury-Jalloh-Komplexes beantworten. Durch die Arbeit der Initiative und ihrer Unterstützer*innen ist es in der BRD erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, dass Polizeibeamte Menschen umbringen. Dafür Aufmerksamkeit zu schaffen, war ein langer Kampf, auch innerhalb der politischen Linken. Bei unseren Demos waren anfangs nur 200 bis 300 Leute. Erst 2013, acht Jahre nach Ourys Jallohs Tod im Dessauer Polizeirevier, nachdem wir unabhängige Gutachten beauftragt und eine Medienstrategie aufgebaut hatten, ist es uns gelungen, die Öffentlichkeit von den vielen Widersprüchen zu überzeugen und mehr Menschen nach Dessau zu mobilisieren. Wir haben Hunderte Info-Veranstaltungen in ganz Deutschland gemacht und viele Menschen – vor allem junge Leute, aber auch Personen aus Gewerkschaften und Kirchen – dafür sensibilisiert. Dadurch, dass wir Aufklärung selbst in die Hand genommen haben und damit ernst genommen wurden, konnte ein Potenzial entstehen. Dass sich überall Initiativen gründen, ist das, wozu wir immer aufgerufen haben. Die Leute in unseren Veranstaltungen waren immer total schockiert und haben gefragt: Wie können wir euch unterstützen? Unsere Antwort war: Ihr müsst uns nicht unterstützen, aber wenn so etwas bei euch passiert, müsst ihr handeln. Wir brauchen überall ein Netzwerk von Menschen, die aktiv sind, die Fragen stellen, die die Familien von Opfern beraten.

Teilen Sie den Eindruck, dass die gestiegene Aufmerksamkeit sich sehr stark auf rassistische Polizeigewalt fokussiert?

Saeed: Ja. Wir haben mittlerweile eine größere Sensibilität, wenn es um rassistische Polizeigewalt geht. Das ist ein Erfolg der politischen Arbeit, die über die Jahrzehnte von vielen Menschen geleistet wurde. Eine Rolle spielt dabei auch, dass das Thema in Deutschland über die Debatte nach der Tötung von George Floyd in den USA noch mal mehr Aufmerksamkeit bekommen hat. Wie gesagt: Das ist richtig gut. Aber es ist nur ein Teilaspekt, und es erfasst überhaupt nicht das ganze Spektrum an Gewalt.

Von welchen Faktoren hängt es ab, wie viel Empörung tödliche Polizeigewalt auslöst? Warum kommt es in einigen Fällen zu Protesten, während die Öffentlichkeit von den meisten Getöteten kaum Notiz nimmt?

Luke Harrow: Ich denke, es hängt sehr stark damit zusammen, wie eng die Getöteten mit anderen Menschen verbunden waren. Wenn Obdachlose ohne soziales Netzwerk getötet werden, geht das dagegen häufig völlig unter. Da gibt es meist keine Familie, keine Freunde, es wird nicht einmal eine Pressemitteilung verschickt. Wenn Arbeiter*innen und Arme aus der »normalen Bevölkerung« getötet werden, ist die Frage, wie gut sie vernetzt waren. Gibt es eine starke Familie oder einen Freundeskreis, der sich engagiert? Welche Kontakte hat man in unterschiedlichen Bevölkerungsschichten? Sehr relevant ist schließlich, wie »relatable« die Menschen sind. Anders ausgedrückt: Wie sehr sieht man sich in der Person, die getötet wurde? Bei Lorenz A., dessen Erschießung im April in Oldenburg große Empörung ausgelöst hat, bin ich sicher, dass das, was ihm passiert ist, viele Menschen berührt hat. Je mehr der genannten Faktoren zusammenkommen, desto größer die Aufmerksamkeit. Und umgekehrt.

Interview

Nadine Saeed engagiert sich seit vielen Jahren in der Initiative im Gedenken an Oury Jalloh, die unter anderem über Spenden zahlreiche eigene Untersuchungen zum Mord an dem Geflüchteten finanziert hat.

Viele Gruppen, die gegen Polizeigewalt aktiv sind, gehen davon aus, dass sich diese in besonderer Weise gegen von Rassismus betroffene Menschen richtet. Wie sehen Sie das?

Saeed: Ich denke, dass weiße Deutsche tatsächlich den größten Teil der Opfer von tödlicher Polizeigewalt ausmachen. Von vielen Fällen bekommen wir gar nichts mit, weil es keine verlässliche Erfassung gibt. Wenn irgendwo ein Obdachloser totgeprügelt wird, wenn ein Punk zusammengeschlagen wird, dann wird das häufig einfach nicht bekannt. Viele Menschen, die von Polizeigewalt betroffen sind, melden sich nirgends und können sich auch nicht melden, weil es für sie keine Anlaufstellen gibt. Dass rassistische Polizeigewalt mehr wahrgenommen wird, liegt daran, dass in diesem Bereich mehr Sensibilisierung stattgefunden hat, und dass es Initiativen gibt, die die Betroffenen und die Angehörigen unterstützen.

Wenn tödliche Polizeigewalt nicht in erster Linie ein Rassismusproblem ist: Welche Teile der Bevölkerung sind dann am stärksten betroffen?

Harrow: Polizeigewalt umfasst als Überbegriff im Grunde sehr unterschiedliche Dinge. Es gibt sie in Form von Repression gegen (links-)politisch aktive Menschen. Dann haben wir beim Fußball oder auch bei Demonstrationen die Situation, dass die Polizei eingesetzt wird, um Menschenmassen zu trennen, zu sortieren oder so zu bewegen, wie sie es für richtig hält. Dazu kommt die Praxis, Trinker, Obdachlose, Drogenabhängige zu schikanieren. Dann gibt es die Dinge, die wir in Dessau recherchieren, also Gewalt, die in Gewahrsam passiert. Es gibt Schusswaffengebrauch im öffentlichen Raum. Statt abstrakt von Polizeigewalt zu sprechen, wäre es hilfreicher, diese unterschiedlichen Facetten abzubilden. Das rückt auch unterschiedliche Betroffene in den Blick.

Saeed: Zur Frage der Motivlage würde ich gern genauer auf die Fälle von Jürgen Rose und Mario Bichtemann eingehen, die wie Oury Jalloh in Dessau von der Polizei getötet wurden. Dazu beschreibe ich mal die Person Jürgen Rose: Er hatte sehr lange Haare, was in den 1990er Jahren bei Männern nicht sonderlich populär war. Er wurde von der Polizei, schon in der DDR, aber dann auch in der BRD, als aufmüpfig und widerständig angesehen, als jemand, der antiautoritär eingestellt war. Das heißt nicht, dass Jürgen Rose so war, aber das wurde in ihn hineingelesen. Dazu hatte er eine »große Klappe«. Er hat sich nichts gefallen lassen. Wenn er sich ungerecht behandelt fühlte, das wissen wir von der Familie, dann hat er seinen Mund aufgemacht und so was gesagt wie: Nenn mir mal die Quadratwurzel aus xy. Er war Ingenieur, er war gebildet, hat viel gelesen. Auf einem Revier kann es schnell kippen, wenn du Widerworte gibst und ein entsprechendes Äußeres mitbringst, das als Affront angesehen wird. Wir vermuten, dass das der Auslöser war, ihn letztlich totzuprügeln. Wahrscheinlich wollten die Beamten ihm nur »eine Lektion erteilen« und das ist ausgeartet.

Interview

Luke Harrow hat als Investigativjournalist zum sogenannten Oury-Jalloh-Komplex gearbeitet. Zusammen mit Nadine Saeed gehört er zu den Gründer*innen des Recherchezentrums e. V., das zu Todesfällen in Polizeigewahrsam und bei Polizeieinsätzen recherchiert. 2024 veröffentlichte das Zentrum neue Erkenntnisse zum Tod von Jürgen Rose am 7. Dezember 1997 und reichte eine Mordanzeige gegen Dessauer Polizeibeamte bei der Generalbundesanwaltschaft ein.

Wie war es bei Mario Bichtemann?

Saeed: Mario Bichtemann lag schwer alkoholisiert auf der Straße, weshalb Passanten die Polizei riefen. Er wurde dann mitgenommen und lag 16 Stunden später mit einem Schädelbruch in der Zelle. Bichtemann wurde aufgrund seiner Alkoholkrankrankheit für einen Obdachlosen gehalten, obwohl er nicht obdachlos war. Das wird in der Öffentlichkeit immer wieder falsch verbreitet. Er hatte eine Wohnung, er hatte einfach nur ein starkes Alkoholproblem. Aus den Verhandlungen im Oury-Jalloh-Prozess wissen wir, dass man die Leute im Dessauer Revier »erzogen« hat. Zu den »Erziehungsmaßnahmen« gehörte es beispielsweise, jemanden in eine Zelle zu sperren. Und dann muss man sich vorstellen: Wenn Alkoholisierte über viele Stunden in einer Zelle sind, übergeben die sich. Das riecht dann. Und Beamte, die Kontrollen durchführen, denken: »Schon wieder so ein Penner« und fühlen sich aus sozialdarwinistischen Motiven ermächtigt, den Menschen Gewalt anzutun. Das heißt nicht, dass beabsichtigt ist, die Person umzubringen. Das passiert einfach. Wenn wir uns bewusst machen, dass es schon in dem kleinen Revier Dessau mindestens drei ungeklärte Todesfälle gibt, dann sind natürlich zum einen die Täter das Problem. Ein noch größeres Problem ist aber, dass niemand ernsthaft ermittelt. Die Polizei tut, was sie tut, weil sie weiß, dass sie es kann. Die Beamten wissen, dass sie in den darauffolgenden Monaten und Jahren geschützt werden.

Was folgt aus Ihrer Analyse politisch?

Saeed: Ich sage immer, wenn Jürgen Rose nicht umgebracht worden wäre oder wenn damals konsequent ermittelt worden wäre, dann wären Mario Bichtemann und Oury Jalloh noch am Leben. Oury war der Letzte, vor ihm sind zwei deutsche Männer aus der Region gestorben. Die Todesfälle hängen eng zusammen. Eine Kultur der Gewalt hat an diesem Polizeirevier schon lange geherrscht. Gegen Linke, gegen Andersdenkende, gegen Alkoholiker, gegen Menschen, die den Beamten nicht gepasst haben. Deswegen ergibt es keinen Sinn, nur von rassistischer Polizeigewalt zu sprechen. Es ist nicht nur Rassismus, sondern auch Sozialdarwinismus. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir dem etwas entgegensetzen wollen, müssen wir eine breitere Solidarisierung schaffen und viel mehr Menschen ins Boot holen. Frau Rose und Frau Bichtemann hatten damals keine Ansprechpartner*innen, und sie erfahren bis heute weniger Solidarität. Es ist ein Problem, wenn Familien allein gelassen werden. Wir können uns Aktivist*innen aus Frankreich zum Vorbild nehmen. Wir waren dort auf einer Gedenkdemonstration für Adama Traoré, der 2016 in einer Pariser Banlieue in Polizeigewahrsam starb. Auf dieser Demo haben zum Beispiel Leute von den Gelbwesten gesprochen, deren Proteste damals stattfanden.

Harrow: Auch Gewerkschaften sind bei dem Thema in Frankreich sehr aktiv, aus der Erfahrung heraus, dass es bei der Niederschlagung von Arbeitskämpfen und Streiks eine lange Geschichte von Polizeigewalt gibt. Man muss Kämpfe zusammenführen. Und das geht nicht, wenn man den Fokus nur auf eine Betroffenengruppe legt.

Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.

Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen

Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -