Christoph Biermann: »Wir halten Zufälle schlecht aus«

»Die Tabelle lügt immer«, schreibt der Fußball-Autor in seinem neuen Buch. Ein Gespräch über die Rolle des Zufalls im Lieblingssport der Deutschen

  • Interview: Frank Willmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Millimetersache: Hier trifft Florian Wirtz (vorne M.) nur den Pfosten.
Millimetersache: Hier trifft Florian Wirtz (vorne M.) nur den Pfosten.

Verdanken Sie Ihre Beschäftigung mit dem Zufall dem Zufall?

Nein, das Thema hat sich mir aufgedrängt. Wie allen Fußballfans war mir klar, dass der Zufall im Fußball wichtig ist. Aber irgendwann wollte ich wissen, wie wichtig er ist und was daraus folgt. Dazu musste ich erst mal gedankliche Barrieren wegräumen. Wenn wir etwa vom Zufall sprechen, denken wir nämlich meist »total zufällig«, das ist aber falsch. Der Fußball ist in dem Sinne zufällig, dass Pässe, Torschüsse oder das, was wir sonst am Ball machen, in einem Spektrum von Wahrscheinlichkeiten erfolgreich sind – oder eben nicht.

Wie erforscht man Zufälle?

Es werden heutzutage beim Fußball massenhaft Spieldaten erfasst, mit denen lassen sich Wahrscheinlichkeiten beziffern. Wie hoch sie beim Torschuss sind, wird etwa mit dem Wert Expected Goals erfasst. Dadurch haben wir Werte für den Zufall, wo er früher nur gefühlt war. Für mich ist damit im Fußball der Beginn eines neuen Zeitalters eingeläutet.

Können Fußballprofis den Zufall für sich und ihr Spiel nutzen?

Das tun sie intuitiv schon immer, wenn sie sich auf die Suche nach den Faktoren machen, durch die sich die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs erhöht. Ein wunderschönes Beispiel dafür ist die Geschichte von Taiwo Awoniyi beim 1. FC Union Berlin. Der Nigerianer wurde vorher bei etlichen Klubs herumgereicht und schaffte nirgendwo den Durchbruch. Einer der Gründe, warum er in Berlin zum Goalgetter reifte, war, dass ihm der damalige Ko-Trainer Markus Hoffmann beibrachte, im Moment des Schusses nicht auf den Torwart, sondern auf den Ball zu schauen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit deutlich, ein Tor zu schießen, und Awoniyi konnte seine Torquote von einer auf die andere Saison verdoppeln.

Interview

Christoph Biermanns neues Buch »Die Tabelle lügt immer. Über die Macht des Zufalls im Fußball« (KiWi, 18 €) erscheint am 9. Oktober. Mit Frank Willmann sprach der renommierte Fußball-Publizist über den Zufall, die Schönheit, die ihm innewohnt, und darüber, wie man ihn sogar erzwingen kann.

Welche Geschichte hat Sie im Rahmen Ihrer Recherche am meisten überrascht?

Matthew Benham, der Besitzer des FC Brentford (Londoner Erstligaverein), hat sein Geld mit systematischen Fußballwetten im großen Stil gemacht. Er hat einen stark probabilistischen, also auf Wahrscheinlichkeiten ausgerichteten Blick, und entsprechend wird auch in seinem Klub gearbeitet. Er hat mir erzählt, dass sie einen Nettowahrscheinlichkeitswert für Ecken und Freistöße errechnen. Brentford bringt in diesen Situationen alle Feldspieler in oder an den gegnerischen Strafraum. Das erhöht zwar die Gefahr, ausgekontert zu werden, aber es erhöht in noch größerem Maße die Chance, selbst ein Tor zu erzielen. Der Nettowert ist also positiv, weil der mögliche Nutzen höher ist als der mögliche Schaden. Im ersten Moment fand ich das crazy, aber inzwischen glaube ich, dass Fußball sich in diese Richtung entwickeln wird und die Leute sich systematisch mit solchen Fragen beschäftigen.

Kann man also den Zufall im Fußball herbeiführen?

In den kommenden Jahren werden immer mehr Leute zu berechnen versuchen, wie man den Zufall zu eigenen Gunsten beeinflussen kann. Das Fachgespräch über Fußball wird eine andere Richtung einschlagen, denn wer heute erfolgreich arbeiten will, muss den probabilistischen Charakter des Fußballs besser verstehen. Auch das populäre Gespräch über Fußball von Fans oder in den Medien wird sich verändern. Das hat sogar schon angefangen, wie der Begriff »Spielglück« zeigt. Dieses seltsame Wort ist in den letzten Jahren populär geworden, weil vielen Leuten einerseits klar ist, dass Glück eine große Rolle spielt. Aber zugleich suggeriert der Begriff, dass man sich im Spiel für sein Glück unheimlich angestrengt hat. Wir werden in Zukunft aber noch deutlicher darüber sprechen, dass im Fußball die Sieger nicht besser gewesen sein müssen als die Verlierer. Nehmen wir nur das Finale der Frauen-EM, die Spanierinnen waren klar besser, haben aber gegen die Engländerinnen verloren. So was passiert immer wieder, und deshalb müssen wir Leistung und Ergebnis getrennt voneinander betrachten. Sonst kommen wir zu Fehlschlüssen.

Ist der Zufall aberwitzig, oder sind wir Fußball guckende Menschen, die wir uns nach Klarheit sehnen, die eigentlichen Aberwitze?

Unser größtes Problem als Zuschauer ist jedenfalls, dass wir Zufälle und Unsicherheiten schlecht aushalten. Daher versuchen wir, uns Geschichten zu erzählen, die das überdecken. Mit Prozentzahlen zu hantieren und Wahrscheinlichkeiten zu benennen, ist als Story zu schwach, selbst wenn die Daten richtig sind. Da reden wir lieber davon, dass eine Mannschaft es mehr wollte als die andere, selbst wenn das Quatsch ist. Oder wir mühen uns mit Hilfskonstruktionen wie dem »Spielglück« ab, weil wir nicht von »Glück« sprechen wollen.

Ist der Zufall ein Freund aller Fußballer? Verlässlichkeit bietet er ja nicht, oder?

Er ist sogar der allergrößte Freund, weil er das Spiel so großartig unkalkulierbar macht. So schmerzhaft, so glückbringend. Wie im Leben, wo man auch nicht immer bekommt, was man verdient hat. Fußball hat global einen solchen Siegeszug angetreten, inzwischen selbst in den USA, weil er genau die richtige Dosierung Zufall hat.

Braucht es künftig das Schulfach Zufall in Sportschulen?

Nein, aber es sollte in allen Schulen ein Grundverständnis von Statistik, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Zufall gelehrt werden.

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Ist das Glück im Fußball fürwahr wie ein Schmetterling?

Hermann Gerland, der legendäre Ko-Trainer des FC Bayern, sagt gerne: »Immer Glück ist Können!« Mich wundert, dass Bayern-Fans das bis heute feiern, trotz zweier grotesk unverdient verlorener Endspiele in der Champions League gegen Manchester United oder beim »Finale dahoam« gegen Chelsea.

Haben Sie unseren romantischen Fußball durch Rechnerei und Statistik final erklärt und womöglich vernichtet?

Im Gegenteil. Man kann den Zufall berechnen, Strategien im Umgang damit entwickeln, aber man wird ihn nicht loswerden. Durch umfangreiche Studien wissen wir: Bei gut jedem zweiten Treffer spielt der Zufall mit. Und damit meine ich nur den Moment des Torschusses, da haben wir noch nicht darüber gesprochen, was bis dahin passiert ist. Es gibt fast keine zufallsfreien Tore.

Wie viel Unerwartetes erträgt der Fußballfan?

Letztlich giert der Fan sogar nach dem Unerwarteten, denn schon im nächsten Moment kann Unerhörtes passieren. Das Schönste ist dieser verblüffte Ausruf: »Das gibt es doch nicht!«

Hat die Beschäftigung mit dem Zufall Ihren Blick auf unverhoffte Ereignisse verändert?

Ja, ganz eindeutig. Mir ist klar geworden, dass wir viel weniger selbst in der Hand haben, als wir annehmen.

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