Gaza-Protest: »Wir sind eine Million«

Reportage aus unserer Partnerzeitung »Il Manifesto«: Eine Flutwelle der Solidarität in Rom für Palästina

  • Michele Gambirasi, Giansandro Merli, Rom
  • Lesedauer: 8 Min.
Solidaritätsmarsch in Rom für Gaza, die Palästinenser und die Sumud Global Flotilla
Solidaritätsmarsch in Rom für Gaza, die Palästinenser und die Sumud Global Flotilla

»Ich bin durch die Demonstration gegangen und habe an mein Volk gedacht, an meine Familie, an meine Freunde, um zu versuchen, zu beschreiben, was ich sehe. Aber als Palästinenser ist es schwer, es in wenigen Worten zu sagen: Ich empfinde eine Mischung aus Stolz, tiefen Emotionen und Schmerz. Es ist nicht nur ein Protest, es ist ein kollektives Atemholen, Menschen jeden Typs, die bereit sind zu sagen: Wir sehen euch, wir sind mit euch. Was ich will, ist das Ende des Völkermords und ein freies Palästina, so schnell wie möglich.« Imran kommt aus Ostjerusalem, im Westjordanland, und ist seit einigen Tagen in Italien.

Die Welle der Demonstrationen, Blockaden und Streiks, die vor einem Monat mit dem Start der Flottille begann und mit dem Generalstreik am 22. September explodierte, wurde am Wochenende zu einer Flut. Eine so große Demonstration in der Hauptstadt gab es seit 20 Jahren nicht mehr – damals bei der Protestaktion der Gewerkschaft CGIL gegen die Abschaffung des Artikels 18 (Regelung der Wochenarbeitszeit) im Februar 2002 oder bei der Demonstration gegen den Irak-Krieg ein Jahr später. Diesmal, als es bereits Abend wurde, kam es an den Rändern der Demonstration zu Zusammenstößen zwischen Gruppen von Jugendlichen und der Polizei.

Es sind mehr als sechs Stunden seit dem offiziellen Beginn des Zuges vergangen, der von mehreren Vorversammlungen an verschiedenen Orten der Stadt begleitet wurde. Um 14.30 Uhr war Porta San Paolo bereits überfüllt, die Demonstranten mussten sofort los, um Platz für den Zustrom der weiterhin ankommenden Menschen zu machen. Die Welle ist heterogen und vielfältig: Es gibt Studenten und Arbeiter, sehr junge und ältere Menschen, organisierte Gruppen und viele Leute, die zufällig gekommen sind, um gegen den Völkermord laut zu werden.

Francesca ist 14 Jahre alt und besucht das naturwissenschaftliche Gymnasium Newton in Rom. Sie hält ein Schild in der Hand, auf dem steht: »Seid ruhig, wenn die Kinder schlafen, nicht wenn sie sterben.« Der schlimmste Fehler sei es, »nichts zu sagen angesichts dieser Grausamkeit. Hier zu sein ist unsere Art, uns gegen das zu stellen, was in Gaza geschieht«, erklärt sie.

Weiter vorne sind die Studenten von Osa und die Universitätsgruppe »Cambiare rotta« (»den Kurs ändern«). »Es ist lächerlich, dass Meloni sagt, Demonstrationen würden nichts bewirken. Eine Regierung, die das italienische Volk wirklich vertreten würde, hätte den Export von Waffen nach Israel sofort stoppen müssen. Wir werden uns weiterhin mobilisieren und alles blockieren, von den Universitäten bis zu den Straßen«, sagt Filippo von »Cambiare rotta«.

Il Manifesto

Der Text wurde »nd« zur Verfügung gestellt von der linken italienischen Tageszeitung »Il Manifesto«, mit der wir kooperieren.

Die Sonne scheint heftig, der Platz ist voller Menschen, die mühsam versuchen, die Pyramide hinter sich zu lassen. Ein Junge hat ein Schild in seinem Rucksack: »Hungrige Demonstrant*innen, kommt hierher.« Er heißt Luca, kommt aus Bologna und arbeitet als »sfoglino«, also als Experte im Ausziehen von frischem Teig. »Ich habe ein paar Sandwiches mit Parmesan gemacht, um sie an die zu verteilen, die sie haben wollen. Ich mache es für diese Gemeinschaft.«

Entlang des Viale Aventino schwenkt eine Leserin des »Manifesto« eine große Karikatur von Maicol&Mirco, die am Donnerstag auf der Titelseite des Magazins veröffentlicht wurde. Zwei Charaktere halten sich die Hände. Einer sagt: »Ich fühle mich wie ein Tropfen im Meer.« Der andere antwortet: »Zwei Tropfen.« »Wir fühlen uns wie ein Tropfen im Meer, aber wir sind viele«, sagt Chiara. »Wir kommen aus der Region Marken, aus den Erdbebengebieten, wir wissen, was es bedeutet, viele Dinge zu verlieren, auch wenn das, was wir erlebt haben, natürlich nicht mit dem zu vergleichen ist, was die Bewohner des Gazastreifens erleiden.«

Es ist nicht einfach, den Protestzug zu verfolgen: Die Straßen sind voll von Menschen, die Mobilisierung ist dicht, die Demonstranten breiten sich in den Seitenstraßen aus. Vom Circus Maximus bis zum Colosseum ist der Anblick beeindruckend. Francesca ist aus Florenz gekommen und trägt ein Schild: »Wir wollten Palästina befreien, Palästina hat uns befreit«, steht darauf. »Seit Monaten gehen wir auf die Straße, um diesen Völkermord zu stoppen«, erzählt sie. »Aber in Wahrheit hat uns Palästina aus dem Schlaf geweckt: Wir sind hier, um Nein zu sagen zur Kriegswirtschaft, die uns Dienstleistungen, Wohlfahrt, Schulen und Krankenhäuser raubt. Der Widerstand der Palästinenser hat auch uns geholfen.«

In der Mitte des Protestzugs sieht man das Spruchband mit der Aufschrift »Gaza, wir kommen« der Global Sumud Flotilla (GSF), der Mission, die den Auslöser für die Demonstrationen im September und Oktober gab. »Heute ist ein historischer Tag, der einem anderen historischen Tag folgt. Wir sind bewegt, denn wenn unser kleines Projekt von 40 Booten all das ausgelöst hat, dann hat es sich gelohnt«, sagt Maria Elena Delia, die italienische Sprecherin der GSF. Gestern kehrte eine weitere Gruppe von Aktivisten, darunter der »Manifesto«-Mitarbeiter Lorenzo D’Agostino, nach ihrer Haft in Israel nach Italien zurück, aber die Mission der Flottille scheint noch nicht zu Ende zu sein. »Wir stehen erst am Anfang, zu Wasser und zu Land. Wir sind gegen die Untätigkeit und Gleichgültigkeit der Regierungen aufgestanden und werden weiterhin kämpfen, weil der Mangel an Integrität der Meloni-Regierung grenzenlos ist. Wir werden mit der Kraft all dieser Menschen weitermachen«, schließt Delia.

»Diese Antwort erwärmt das Herz, lässt uns weniger alleine und weniger isoliert fühlen, nach so vielen Versammlungen, bei denen wir zu sechst waren, sogar bei vierzig Grad. Es ist wunderschön zu sehen, dass dieses Land endlich erwacht ist«, sagt ein Stück weiter die Schauspielerin Paola Michelini.

Der Ruf, der am häufigsten zu hören ist, ist »Free Free Palestine«. Tausende, an jeder Stelle des Zuges, singen: »Italien weiß, auf welcher Seite es steht, Palästina frei vom Fluss bis zum Meer.« Der Slogan, fälschlicherweise des Antisemitismus beschuldigt und in einigen europäischen Ländern sogar verboten, geht von Mund zu Mund, von Erwachsenen zu Kindern.

Ob es einem gefällt oder nicht: Zwei Jahre Völkermord im Streaming, mit Bildern von zerfetzten Körpern, ethnischer Säuberung, zerstörten Städten und der Entmenschlichung der Palästinenser durch Netanjahu und seine Verbündeten haben einen tiefen Eindruck in der öffentlichen Meinung hinterlassen. Die Lieder für Gaza gehen Hand in Hand mit denen gegen Tel Aviv, die nie so verbreitet und zahlreich waren. Eine Gruppe von säkularen Pfadfindern aus Colli Albani ruft laut: »Tout le monde déteste le sionisme«. Andere setzen fort mit »Sie töten Frauen, sie töten Kinder, Israel ist ein Mörderstaat« und »Wir sind alle Antizionisten«.

»Der schlimmste Fehler, den wir machen können, ist, nichts zu sagen angesichts dieser Grausamkeit. Hier zu sein, ist unsere Art, uns gegen das zu stellen, was in Gaza geschieht.«

Francesca 14-jährige Gymnasiastin aus Rom

Auf dem Platz sind auch die Arbeiter der Gruppe Autonomer Hafenarbeiter (Gap) aus Livorno, die in den letzten Wochen israelische Schiffe und Waffenlieferungen blockiert haben. »Wir haben schon zwei blockiert, es sollen noch weitere kommen: Wir sind bereit, sie erneut zu stoppen. Es ist wunderschön, so viele Menschen zu sehen, die in der gleichen Sache vereint sind«, sagt Marco von den Gap. »Besser ein Pisano im Haus als ein Netanjahu an der Tür«, scherzen die anderen, während sie die Trommeln schlagen, die den Rhythmus der Slogans vorgeben.

Inzwischen hat der Kopf des Zuges die Piazza San Giovanni erreicht. Die Demonstranten hissen eine palästinensische Flagge zwischen den Händen der Statue von Franziskus von Assisi, die von Rauchgranaten umgeben ist. »Wir sind mehr als eine Million«, sagen sie vom Lastwagen vorne. Und: »Lasst uns eine Minute Lärm für Palästina machen«. Der Platz bricht in Applaus aus, während viele Frauen die Schlüssel zu ihren Häusern aus ihren Taschen holen und sie schwenken, wie es bei feministischen Demonstrationen der Fall ist.

Mitten in der Menge taucht ein Banner auf mit der Aufschrift »7. Oktober: Tag des palästinensischen Widerstands«. Es wird nicht von Palästinensern gehalten, sondern von einer kleinen Gruppe, die anhand der T-Shirts einiger Teilnehmer aus der Gegend Etrurien zu kommen scheint. Mit Sicherheit gibt das Spruchband nicht das allgemeine Gefühl einer entschlossenen Menge wieder, die sich so klar wie nie zuvor ist.

Ein paar hundert Meter weiter hinten setzt sich die Demonstration fort. In der Via Labicana, in einem Abschnitt am Ende der Reihe, bedecken sich Jungen und Mädchen die Gesichter. Plötzlich gibt es eine unerwartete Abzweigung nach links: »Die Jugendlichen holen sich die Straßen der Stadt zurück, um gegen den Völkermord in Palästina zu protestieren. Wir gehen in einem wilden Zug nach Termini«, sagen sie über das Megafon.

Mit schnellen Schritten bewegen sich mindestens 2000 Demonstranten auf den Bahnhof zu, um zu versuchen, ihn zu blockieren, wie es in den letzten Tagen in anderen Städten geschehen ist. Doch nur wenige Meter vor dem Eingang stehen sie einem Barrikadenwall aus gepanzerten Fahrzeugen und Polizisten gegenüber. Schnell biegen sie in Richtung des Piazzale Esquilino ab, hinter der Kirche Santa Maria Maggiore. Der Wasserwerfer kommt, die ersten Tränengasgranaten fliegen, während aus dem Zug Steine und Flaschen fliegen. Ein Junge, der wie ein Minderjähriger aussieht, wird von einem Schlagstock am Kopf getroffen und fällt zu Boden. Er verliert Blut, etliche werden verletzt.

Wenig später bleibt eine Hundertschaft von Demonstranten zwischen dem Gitter der Kirche und drei Polizeiabsperrungen eingekesselt. Sie heben die Hände und singen »Freies Palästina«. Von allen werden die persönlichen Daten aufgenommen. Eine weitere Gruppe befindet sich in der gleichen Situation in der Via Lanza, die bis zur Metrostation Cavour hinunterführt. Die Spannung steigt rundherum. Einige Grüppchen der Demonstration versuchen, die in Gewahrsam genommenen Personen zu erreichen. Zwischen San Giovanni und Piazza Vittorio kommt es zu Auseinandersetzungen. Einige Autos und mehrere Mülltonnen werden in Brand gesteckt. Es gibt weitere Polizeieinsätze und Festnahmen (laut den letzten Informationen zum Zeitpunkt der Drucklegung sind es elf Festnahmen und eine Verhaftung).

Die Regierung Meloni wird wohl die Karte der »Gewalttätigen« und der Zusammenstöße spielen, um zu versuchen, die Proteste zu delegitimieren. Doch angesichts einer so beeindruckenden Demonstration und mitten in einem Völkermord von ungeheurer Gewalt dürfte dies wenig Wirkung auf die öffentliche Meinung haben.

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