Einzig und allein ein »wütender Gewaltrausch«?

Eine Beilage der Zeitschrift »Das Parlament«: Zerrbilder über die Oktoberrevolution

  • Jürgen Schuster
  • Lesedauer: 5 Min.

Ende Oktober dieses Jahres erschien eine Doppelausgabe von »Aus Politik und Zeitgeschichte«, einer Beilage der Wochenzeitung »Das Parlament«, zum Thema Oktoberrevolution. Man hat diese Beilage bisher überwiegend als seriöse Zeitschrift kennen gelernt, die auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen konnte. Doch was in dieser Ausgabe geboten wird, ist weit entfernt von solchem Anspruch.

Es findet quasi eine Generalabrechnung mit siebzig Jahren Sowjetunion statt, die die gängigen antikommunistischen Stereotype zielgenau bedient. Das trifft zwar hauptsächlich auf einen einzigen der Beiträge zu, doch die anderen beteiligten sechs Autoren ergänzen sich in ihren Ausführungen im Produzieren von Einseitigkeiten vortrefflich.

Hier sollen die Darlegungen in dieser Beilage von Jörg Baberowski, Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität Berlin, vorgestellt werden, die sich durch ein besonderes Maß an Bösartigkeit und Infamie auszeichnen.

Er beginnt mit einem Zitat (über eine ganze Spalte) aus den Erinnerungen des letzten Innenministers Nikitin über seine Gefangennahme durch die Rotgardisten. »Die Menge stürzte sich mit Schreien auf uns: Erschießt sie, die Blutsauger, spießt sie auf die Bajonette usw.« Schon hier wird klar das Grundprinzip des Vorgehens deutlich: Das Präparieren von Geschichte, die Denunziation.

Zwar gibt sich der Autor zunächst den Anschein eines seriösen sachbezogenen Vorgehens, will den »Kontext der Revolution« beachten, streift die Reformen von Peter I. und die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861. Auffällig ist, dass Erscheinungen von Verwilderung der Sitten, von Zerrüttung und Desorganisation seine besondere Aufmerksamkeit gilt, und das hat gute Gründe.

Die Revolution von 1905 sei als »anarchischer wütender Gewaltrausch unzivilisierter Massen« zu sehen. Eine Wertung, die er als Wahrnehmung der politischen Eliten verkleidet. Im Ersten Weltkrieg sei Russland in Chaos und Anarchie versunken.

Nach der Februarrevolution 1917 sei eine Lage entstanden, bei der die »Bauernsoldaten« sich der militärischen Disziplin widersetzten, ihre Offiziere töteten und die Armee verließen. In dieser Situation sei die Stunde der Bolschewiki angebrochen, einer Partei, bestehend aus »russischen und jüdischen Berufsrevolutionären«, die anfänglich kaum jemand gekannt habe und die mit dem Volk nicht verbunden gewesen wären. Sie seien »auf den Wogen des Protestes nach oben« getrieben worden.

Weiter heißt es dann: »In einer Atmosphäre des Hasses traten die Bolschewiki als Advokaten hemmungsloser Gewalt auf: Der Machokult des Tötens und Mordens, die Primitivität und Bösartigkeit des Vokabulars« hätten sie als Männer der Tat ausgewiesen. »Skrupellosigkeit und Gewalttätigkeit« seien die bestimmenden Eigenschaften von Lenin und Trotzki gewesen.

Bei dergestalt maßlosen Ausfällen muss man wohl die Frage stellen, wie weit diese Bekundungen noch entfernt sind von jener berüchtigten Goebbels-Rede im Sportpalast, als er vor den »brutalen und kulturlosen Barbaren aus den sibirischen Steppen« warnte. An anderer Stelle heißt es: »Der Krieg war die Lebensform der Bolschewiki. Hätte es ihn nicht gegeben, hätten sie ihn erklären müssen, um zu tun, was sie tun mussten«.

Was da mitgeteilt wird, ist nicht nur eine Klitterung oder Verbiegung von Geschichte. Hier wird eine lupenreine Geschichtslüge präsentiert, denn es gehört zu den historischen Leistungen der Bolschewiki, mit größter Entschiedenheit gegen die Vorbereitung des Ersten Weltkrieges und dann für seine Beendigung gestritten und im Gegensatz zu den Sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa Kriegskredite konsequent abgelehnt zu haben.

Das nach der Oktoberrevolution vom II. Sowjetkongress beschlossene berühmte Dekret über den Frieden, das alle Kriegsparteien zum Abschluss eines Friedensvertrages ohne Annexionen und Kontributionen aufforderte und den Krieg zum »größten Verbrechen an der Menschheit« erklärte, war ein Dokument von historischer Dimension. Auch bei den übrigen Autoren der oben genannten Zeitschriftenausgabe stehen Gewalt und Terror im Mittelpunkt der Darlegungen, vor allem die Stalin-Ära. Dabei greifen sie mit Vorliebe auf Publikationen wie das »Schwarzbuch des Kommunismus« zurück oder auf ein »Spiegel«-Interview mit Alexander Solschenizyn, in dem er erklärt, der Oktoberaufstand habe »Russland das Rückgrat gebrochen«.

Durchgängig wurde unterschlagen, dass der neuen Macht von Anbeginn tödliche Gefahren von feindlichen Armeen drohten, zunächst aus Deutschland und von weißgardistischen Truppen und dann schließlich von 14 ausländischen Armeen, die unter der zynischen Parole Churchills zur Liquidierung der Sowjetmacht, »In der Wiege ersticken«, über das Land herfielen, natürlich im Namen der Freiheit. In einem der Beiträge wird verschämt die »Landung alliierter Kontingente« erwähnt, beiläufig.

Will man heute die sieben Jahrzehnte sowjetischer Geschichte sachlich bewerten, so wird man feststellen müssen, dass dieses Volk außergewöhnliche Belastungen überstehen musste, vor allem in der Stalin-Periode. Doch ebenso gehört es zur historischen Wahrheit, dass ein rückständiges Agrarland unter den Bedingungen des sowjetischen politischen Systems trotz aller Erschwernisse innerhalb kürzester Zeit zu den führenden Industrienationen aufschließen konnte.

Eine solch simple Tatsache auszusprechen, scheint auch neunzig Jahre nach der Oktoberrevolution noch immer eine Todsünde zu sein. Es ist kaum nachvollziehbar, dass die gängigen Untersuchungen zu diesem Thema nach wie vor nur ideologisch verformt und auf das Anprangern fixiert sind. Hier sei abschließend einmal die Frage erlaubt, wie bei einer solchen Methode, mit Geschichte umzugehen, ein Urteil über die katholische Kirche aussehen würde. Beispielsweise angesichts ihrer Rolle als Begründerin des Antisemitismus, als Erfinderin von Gettos für Juden und der ihnen aufgezwungenen Kenzeichnung durch gelbe Stoffteile und der zahllosen päpstlichen Enzykliken und Bullen, in denen über Jahrhunderte der Hass gegen die »Mörder Christi« geschürt wurde. (Das veranlasste das »Lexikon der Religionen« zu der Feststellung: »Ohne die nahezu 2000 Jahre christlicher Judenfeindschaft ist Auschwitz nicht möglich gewesen«.)

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