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  • »Das Herz von allem«

Die Welt liegt uns zu Füßen

In »Das Herz von allem« erzählt Christoph Nußbaumeder von amerikanischen Siedlern, ihrem Forschergeist und was er angerichtet hat

  • Frank Willmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Irgendwas zwischen Mammut und Elefant – auf jeden Fall war das American Incognitum eine beliebte Trophäe.
Irgendwas zwischen Mammut und Elefant – auf jeden Fall war das American Incognitum eine beliebte Trophäe.

Der exkommunizierte einstige Pfarrer und jetzige Freigeist Johannes, später John Gottstein, flieht 1796 von Deutschland nach New York. Er will sich dort der geheimnisvollen Expedition des reichen Philanthropen Oliver anschließen, der sich als Ziel gesetzt hat, in den Black Hills, im weit entfernten Gebiet der indigenen Ureinwohner, nach dem American Incognitum, einem prähistorischen Tier, zu suchen.

Johannes ist ein Außenseiter unter einem Dutzend furchtloser Gestalten, die angeführt von Oliver, dem französischen Trapper Bonard und dem dämonischen Arzt Scheider dem Tier der Freiheit auf die Schliche kommen wollen. Der friedliebende Johannes kann kein Gewehr bedienen und soll auf der Reise als Seelsorger wirken, Oliver in gelehrten Gesprächen Partner sein und bei der Begegnung mit religiösen Siedlern und geistesfernen Hinterwäldlern mit seinem Priestergewand für gute Stimmung sorgen.

»Nach Weisheit habe bisher noch niemand gesucht, der in ihr Land gekommen war. Die Weißen wollten stets nur die Schätze der Lakota rauben oder Geschäfte machen.«

Die Männer, einer ist ein schwarzer Sklave des Freiheitsfanatikers Oliver, erleben auf ihrer Reise die brutale Wucht der Natur und feindliche Angriffe. Sie treffen Natives, denen sie skeptisch begegnen; dennoch nehmen sie die indigene Nanawu auf, die ihnen als Übersetzerin und wegekundige Führerin extrem nützlich wird. Nanawu sucht ihren Stamm, aus dem sie einst als Kind entführt wurde.

Je beschwerlicher es wird, desto größer die aufreißenden Gräben. Der Humanist John gegen den rationalen Menschenfeind Scheider, der fortschrittsgläubige Gefühlsdemokrat Oliver gegen alle. Sind alle Menschen Brüder, oder gibt es unter den Brüdern den größten Bruder? Ist die Freiheit aller Menschen das höchste Ideal?

Und was geschieht mit dem American Incognitum, wenn man es tief im Westen findet? Wird es ein Nutztier zum Wohle aller, steht es an der Spitze und ficht künftige Kriege aus, dient es allein den fähigsten Unternehmern? Als die dezimierte Gruppe außerhalb der damaligen Grenzen der Vereinigten Staaten von Amerika das Gebiet der Lakota erreicht, findet die Expedition Stoßzähne, die den indigenen Menschen als Schmuck dienen. Sie erfahren von den Windhöhlen in den Black Hills, die laut Schöpfungsgeschichte der Lakota die Geburtsstätte der Menschen sind. Doch die Lakota sind vorsichtig: »Nach Weisheit habe bisher noch niemand gesucht, der in ihr Land gekommen war. Die Weißen wollten stets nur die Schätze der Lakota rauben oder Geschäfte machen.«

Drei Jahre hat Christoph Nußbaumeder an seinem Roman »Das Herz von allem« gearbeitet, die Geschichte der Lewis-und-Clark-Expedition recherchiert, Sachbücher über indigene Völker studiert und in seinen Träumen das American Incognitum gehascht, das vermeintlich größte Viech Amerikas. »Das Tier hatte ein braunes Fellkleid, einen zotteligen Pelz mit langen Haaren ohne Anmut – und es roch beißend wie ein ungewaschener Lumpensammler.« Er begutachtete Mastodon-Skelette, durchwanderte den finsteren Bayerischen Wald, beleuchtete ausgewählte Urväter der amerikanischen Demokratie und die frühen sozialistischen Gedanken, die einige von ihnen sortierten.

Nußbaumeder, der mit seinem ersten Roman »Die Unverhofften« bereits für viel Furore sorgte, hat einen packenden philosophischen Abenteuerroman geschrieben, der en passant Fragen nach dem Sinn menschlichen Strebens behandelt und dem Gespenst der Freiheit nachspürt. Er schuf eine grandiose Parabel über das amerikanische Imperium, einen glühenden Text mit frühchristlich anmutenden Tupfern, cool und schwer, zugleich kitschfrei und immer aufseiten der indigenen Urbevölkerung. Nußbaumeder kalibriert in Rückbindung an die Naturvölker einen anderen Blick auf die Welt und auf das, was der Westen für Fortschritt hält. Eine überragende Leistung, eine mitreißende Erzählung.

Gerungen wird in gegenwärtiger Prosa mit philosophischen, naturwissenschaftlichen und religiösen Theorien der Zeit um 1800. Der Gedanke der Autarkie schwebt über dem Roman, dessen ambivalenter Hauptheld nicht gefeit ist gegen menschliche Schwächen. Der frühere Dramatiker Nußbaumeder hat ein geniales Gefühl für starke Dialoge und Suspense.

Das Buch ist durchaus filmisch angelegt, man kann es sich gut adaptiert vorstellen. Man wünscht ihm, es mögen originelle Freaks wie die Coen-Brüder über den Stoff stolpern – die spannende Geschichte im philosophischen Gewand schreit nach einer filmischen Auswertung: »American Primeval«, »1893« und »Yellowstone« lassen schön grüßen.

Christoph Nußbaumeder: Das Herz von allem. Rowohlt, 448 S., geb., 25 €.

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