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Zwei Jahre 7. Oktober: Im Fadenkreuz

Seit dem 7. Oktober 2023 leben Berliner Juden und Aktivisten gegen Antisemitismus in Angst

Im September vergangenen Jahres kam es zu einem Brandanschlag auf die Kneipe »Bajszel«.
Im September vergangenen Jahres kam es zu einem Brandanschlag auf die Kneipe »Bajszel«.

Drei Bilder von Menschen, über ihnen schweben wie Zielmarkierungen rote Dreiecke, darunter in Großbuchstaben der Schriftzug »Wanted«. Offenbar soll das Flugblatt, das in der vergangenen Woche rund um die Emser Straße in Neukölln verteilt und verklebt wurde, Assoziationen an ein Fahndungsplakat erwecken. Abgebildet sind die drei Betreiber der Neuköllner Kneipe »Bajszel«, in der immer wieder Veranstaltungen stattfinden, die Antisemitismus thematisieren.

Die Betreiber würden den »Kolonialstaat Israel« unterstützen, heißt es in dem Flyer, sie seien »Zionisten«. Sie dürften sich in Berlin nicht sicher fühlen, fahren die Verfasser fort, man kenne ihre Namen und Adressen. Der Text endet mit einem unverhohlenen Mordaufruf: »Wir wollen, dass diese drei für immer zum Schweigen gebracht werden«, heißt es in dem englischsprachigen Text. So könne dies als Warnung »für alle Zionisten in Berlin und Neukölln« dienen.

»Ein Nachbar hat uns über die Flyer informiert«, berichtet Alexander Carstiuc, einer der Betreiber des »Bajszel«. Ein Schock sei die erste Reaktion gewesen. »Natürlich macht das was mit einem, wenn man sich selbst auf so einem Flyer sieht«, sagt Carstiuc. Der Text entmenschliche die Kneipenwirte. »Die Botschaft ist klar: Man darf gewalttätig sein.«

Für das »Bajszel« ist es nicht der erste Angriff dieser Art. Seit der Eröffnung der Kneipe, die nie einen Hehl aus den Überzeugungen ihrer Betreiber gemacht hat, sei es immer wieder zu Beleidigungen und Bedrohungen gekommen; seit dem 7. Oktober 2023 habe sich die Zahl dieser Übergriffe vervielfacht. »Inzwischen haben wir täglich Stress«, berichtet Carstiuc. Menschen würden in Autos vorbeifahren und Parolen brüllen oder Gegenstände werfen. Auch er selbst sei im Kiez schon angegangen worden, berichtet Carstiuc.

Immer wieder habe es Schmierereien an Wänden und Fenstern der Kneipe gegeben. Auch dort erschien schon das rote Dreieck, das nun auf den Flugblättern wieder auftauchte. Die Hamas verwendet es in Videos, um vorgebliche Feinde zu markieren, ihre Unterstützer im Westen haben es inzwischen als Symbol übernommen. »Die Polizei hat das erst nicht ernst genommen«, sagt Carstiuc. Doch dann sei es zu Steinwürfen gegen die Fassade gekommen, später gab es einen Brandanschlag auf die Kneipe. »Bei allen diesen Angriffen waren noch Gäste im Raum«, berichtet Carstiuc. Inzwischen steht die Kneipe permanent unter Polizeischutz.

Die Übergriffe gegen das »Bajszel« stehen nicht allein. Seit dem Massaker der Hamas im Süden Israels am 7. Oktober 2023 explodiert die Zahl gemeldeter Vorfälle geradezu. »Vor dem 7. Oktober hatten wir im Jahr 2023 durchschnittlich rund 53 antisemitische Vorfälle pro Monat und danach 263«, berichtet Julia Kopp, Projektleiterin bei der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (Rias), gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. 2024 und im laufenden Jahr zähle man noch immer etwa 200 gemeldete Vorfälle im Monat. Rias beruft sich auf die international anerkannte IHRA-Definition von Antisemitismus, die in der Vergangenheit allerdings auch Kritik auf sich gezogen hat.

Größtenteils geht es dabei um Beleidigungen und Drohungen, verbal geäußert oder in der Form von Graffiti. »Äußerungen wie ›Hitler hätte das zu Ende bringen müssen‹ oder noch drastischere Formulierungen«, führt Kopp als Beispiel an. Juden, die durch eine Kippa erkennbar seien oder weil sie Hebräisch sprächen, würden Schimpfwörter zugezischt oder angespuckt.

»Wir haben keine Angst, sondern Wut.«

Alexander Carstiuc Kneipe »Bajszel«

Oft bleibt es nicht bei Drohungen: 55 Gewalttaten wurden Rias im vergangenen Jahr gemeldet – mehr als doppelt so viele wie in den Berichtsjahren vor dem 7. Oktober. Auch im laufenden Jahr gab es mehrere erschütternde Angriffe: Erst im September wurde ein Paar in einem Zug der U-Bahnlinie 3 von Unbekannten ins Gesicht geschlagen, nachdem sie sich als Juden zu erkennen gegeben hatten. Im Juni hatte ein 29-Jähriger im Gleisdreieckpark in Kreuzberg mit einem Messer in die Richtung eines Spaziergängers mit einer Davidsternkette gestochen. Im Februar kam es zum bislang folgenschwersten Anschlag: Ein 19-Jähriger stach am Holocaust-Mahnmal auf einen Touristen ein, der den Angriff nur knapp überlebte. Im Anschluss gab der Täter gegenüber der Polizei an, er habe »Juden töten« wollen.

Oft zeigen die Taten dabei einen offenen Bezug zum Nahost-Konflikt: So sei ein jüdischer Ukrainer auf dem Weg zur Synagoge von einem Unbekannten zu Boden gestoßen und dann mit einem E-Roller verletzt worden; er musste mit einem Knochenbruch im Krankenhaus behandelt werden, wie Rias einen Fall dokumentiert. Der Täter rief dabei »Free Palestine«.

Rias beobachtet, dass nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Vorfälle zunehme. »Auch antisemitische Botschaften beinhalteten häufiger explizite Androhungen von Gewalt, Befürwortungen der Shoah und andere Vernichtungsfantasien«, sagt die Rias-Projektreferentin Ruth Hatlapa zu »nd«. Dies sehe man vor allem bei Vorfällen, die sich online ereigneten, aber auch bei Schmierereien im öffentlichen Raum.

Jüdisches Leben wird durch die Angriffe aus der Öffentlichkeit gedrängt. »Wir müssen feststellen, dass Jüdinnen und Juden derzeit häufiger aus Antizipation vor Anfeindungen darauf verzichten, sich öffentlich als jüdisch zu erkennen zu geben«, sagt Hatlapa. Diese Situation habe es zwar schon vor dem 7. Oktober gegeben. »Aber die Abwägung zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit hat sich seitdem noch einmal verschärft«, so Hatlapa.

Alexander Carstiuc von der Kneipe »Bajszel« will sich nicht einschüchtern lassen. »Wir haben keine Angst, sondern Wut«, sagt er. Seit die Drohbriefe veröffentlicht wurden, habe man viel Zuspruch von jüdischen Organisationen und anderen Menschen erfahren. »Für uns sind die Drohungen eher eine Motivation, unseren Kampf gegen Antisemitismus fortzusetzen«, sagt Carstiuc.

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