Bäume, die aus Blumensträußen wuchsen

In der Oderbruchstraße verschönerte eine Hausgemeinschaft ihr Wohnumfeld vor mehr als 50 Jahren in Eigeninitiative

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Eiche zwischen den Wohnblöcken in der Oderbruchstraße
Die Eiche zwischen den Wohnblöcken in der Oderbruchstraße

Vom Balkon seiner Wohnung in der Oderbruchstraße in Pankow zeigt Siegfried Mechler stolz die Eiche, die bis vor seine Fenster in der vierten Etage gewachsen ist. »So groß war sie«, sagt Mechler und zeigt mit seiner Hand bis etwa über sein Knie. Als zartes Pflänzchen entdeckte der 90-Jährige diese Eiche vor langer Zeit an der Giebelwand seines Wohnblocks. Dort hätte sie keine Chance gehabt, sich so prächtig zu entwickeln. Vorsichtig grub Mechler die junge Eiche damals aus und versetzte sie mitten auf den Rasen an den Platz, auf dem sie heute steht.

Das war der Anfang. Nachbarn brachten aus dem Urlaub eine kleine Linde mit, andere eine kleine Birke. Wieder jemand anderes spendierte aus seinem Kleingarten eine Kastanie. Zwei Männer hatten ihren Frauen Blumensträuße geschenkt, in die als Schmuck Zweige von Korkenzieherweiden eingeflochten waren. Als diese Zweige Wurzeln schlugen, fanden auch sie ihren Platz vor dem Haus.

»So ist, wenn man so will, die Fläche planlos begrünt worden«, erzählt Siegfried Mechler. Nachdem er vorher mit seiner vier Jahre jüngeren Frau Margitta ein Zimmer zur Untermiete hatte, bekam er 1962 die 67 Quadratmeter große Wohnung in der Oderbruchstraße von der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) der Humboldt-Universität. An dieser Universität hatten beide Ökonomie studiert und Siegfried Mechler blieb als wissenschaftlicher Assistent und wurde Professor.

Wo sich heute das Blumenviertel erstreckt, hatte es zuvor Kleingartenanlagen gegeben. 1962 waren die Wohnhäuser gerade fertig geworden und zwischen ihnen lag noch der Bauschutt. Bis Ende der 60er Jahre waren immerhin Wege und Rasen angelegt, aber Bäume ließen immer noch auf sich warten. Da ergriff die Hausgemeinschaft Eigeninitiative. Mit dem Grünflächenamt schlossen sie einen Vertrag ab, das Areal selbst zu pflegen. 120 Mark im Jahr gab es dafür. »Das reichte für Bier und Bockwurst bei den Arbeitseinsätzen«, erinnert sich Margitta Mechler. Blieb etwas Geld übrig, wurde es für Kinderfeste verwendet. Mechlers selbst haben einen Sohn und eine Tochter.

Einmal holte ein Nachbar, der bei der Massenorganisation Deutsch-Sowjetische Freundschaft arbeitete, für so ein Kinderfest eine Blaskapelle der sowjetischen Truppen aus Wünsdorf heran. Die Musiker wurden für das Abendessen an die Familien im Haus verteilt. Beginnend mit den Baumpflanzungen, die das Wohnumfeld verschönerten, habe sich im Haus ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt, berichten die Mechlers.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Siegfried Mechler besann sich darauf, als er im »nd« las, der Berliner Senat hege wegen der geschätzten Kosten von 7,2 Milliarden Euro Bedenken gegen den Plan des Volksbegehrens »Baumentscheid«, dass in der Hauptstadt eine Million Bäume gepflanzt und 1000 Miniparks angelegt werden sollen. Experten hatten bei einer Anhörung im Umweltausschuss des Abgeordnetenhauses darauf hingewiesen, dass sich die notwendige Summe Geldes durch ehrenamtliches Engagement erheblich senken ließe. Siegfried Mechler ist davon überzeugt, dass sich mit einem Aufruf an die Bevölkerung tatsächlich viele Berliner am Pflanzen und an der Pflege der Bäume beteiligen würden, so wie vor mehr als 50 Jahren in der Oderbruchstraße. Wenn eine der Birken vor dem Haus in einem trockenen Sommer die Blätter hängen lässt, wird die von den Bewohnern gewässert.

Heute gehört das Haus zur Wohnungsbaugesellschaft »Zentrum«, die rund 4500 Quartiere in Prenzlauer Berg bewirtschaftet. Für eine abgestorbene Pappel ließ diese einen neuen Baum pflanzen. Doch die meisten anderen Bäume stehen so fest wie die Eiche, mit der vor mehr als 50 Jahren alles begann.

- Anzeige -

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -