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Arbeit auf der Baustelle: Wenn der Chef die Stunden aufschreibt
Auf vielen Berliner Baustellen wird die Arbeitszeit nicht korrekt dokumentiert
Das ehemalige Frauengefängnis in der Lehrter Straße in Moabit ist gerade eine Baustelle. Die Bauarbeiten im Gebäudeteil der Hausnummer 61 sind schon recht weit fortgeschritten. Nach Fertigstellung sollen hier einmal Künstler*innenateliers einziehen.
Am Dienstagvormittag betritt eine kleine Gruppe die Baustelle. Die Gruppe wird vom Berliner Beratungszentrum Migration und Gute Arbeit (Bema) koordiniert. Das senatsfinanzierte Projekt berät Migrant*innen in Fragen des Arbeitsrechts. Die Berater*innen der Bema sprechen verschiedene Sprachen.
Auf der Baustelle in der Lehrter Straße sind am Dienstag vor allem deutsche Staatsangehörige eingesetzt. Mit den Dämmarbeiten unterm Dach sind aber auch zwei Migranten ohne deutschen Pass befasst. Mohammad Ismael, der auch an der Baustellenbegehung teilnimmt, drückt ihnen Flyer in die Hand. Darauf steht: »Keine Minute umsonst – Dokumentiere deine Arbeitszeit«. Am 7. Oktober, dem internationalen Tag für menschenwürdige Arbeit, will die Bema auf die Bedeutung der Arbeitszeiterfassung aufmerksam machen und auf Probleme, die mit überlangen, falsch oder nicht erfassten Arbeitszeiten einhergehen.
Es gebe keine Probleme, sagt ein junger Mann in dunkelgrauem Kapuzenpullover zu Ismael. Der Boden ist übersät mit Styroporkugeln von dem Dämmmaterial. Kurz diskutieren der Arbeiter und Ismael, ob die von ihm genannte Sommerarbeitszeit nicht eine halbe Stunde länger sei, als vom Arbeitszeitgesetz vorgesehen. Grundsätzlich ist eine Arbeitszeit von bis zu zehn Stunden möglich, aber nicht dauerhaft. Über sechs Monate verteilt darf die Arbeitszeit einen Tagesdurchschnitt von acht Stunden nicht überschreiten.
Dann kommen der junge Bauarbeiter und Ismael auf den Flyer und die Dokumentation der Arbeitszeit zu sprechen. »Die Arbeitszeiten werden von meinem Vorgesetzten aufgeschrieben. Wir kriegen dann am Ende des Monats eine Kopie«, sagt der Arbeiter. Ismael verweist auf den Flyer. Er enthält eine kleine Tabelle zum Ausfüllen: Datum, Beginn, Ende, Pausen, Arbeitszeit, Arbeitsort. »Ich empfehle dir, deine Arbeitszeiten selbst aufzuschreiben und zu vergleichen, ob das, was dein Vorgesetzter aufgeschrieben hat, stimmt«, sagt Ismael. Er arbeitet nicht bei der Bema, sondern bei der Beratungsstelle Faire Integration, die sich speziell an Beschäftigte richtet, die von außerhalb der Europäischen Union kommen.
»Herzlich willkommen in Deutschland, hier gibt es viel Betrug.«
Ein migrantischer Bauerarbeiter auf der Baustelle Lehrter Straße 61
»Für ausländische Mitarbeiter, die als niedrig entlohnte Bauhelfer arbeiten, kommt es fast ausnahmslos vor, dass vom Vorgesetzten zum Beispiel acht Stunden Arbeitszeit aufgeschrieben werden, obwohl tatsächlich zehn Stunden gearbeitet wurden«, sagt Sergiu Lopatä. Er kommt ursprünglich aus Moldau und berät bei der Bema auf Rumänisch und Russisch. Lopatä erinnert sich an eine Beratungsanfrage von zwei Bauarbeitern, die mit Reparaturarbeiten an einem Jobcentergebäude befasst waren. Die beiden seien vom Eigentümer des Gebäudes, das vom bezirklichen Jobcenter gemietet wurde, zwei Monate lang beauftragt gewesen und hätten am Ende kein Geld bekommen.
»Herzlich Willkommen in Deutschland, hier gibt es viel Betrug«, scherzt der andere Bauarbeiter unterm Dach des ehemaligen Frauengefängnisses. Er habe schon für Firmen gearbeitet, die ihn um seine Arbeitszeit betrogen hätten. Das sei bei seinem jetzigen Arbeitgeber aber anders, sagt er zu Ismael. Doch auch er verneint die Nachfrage, ob er die von seinem Vorgesetzten dokumentierten Stunden mal überprüft habe. »Das ist eine gute Idee«, sagt er.
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Die Liegenschaft in der Lehrter Straße gehört der landeseigenen BIM Berliner Immobilienmanagement GmbH. Vertreter*innen der Bema loben, dass die BIM selbst an guten Arbeitsbedingungen bei den auf ihren Baustellen tätigen Subunternehmen interessiert sei und regelmäßige Kontrollen und Aufklärungsbesuche ermögliche. Eine ähnliche Kooperation plant die Bema auch mit der BVG.
Dass in der Lehrter Straße auf den ersten Blick alles innerhalb des gesetzlichen Rahmens abläuft, hatte Berater Lopatä vorab vermutet. Bei den schweren körperlichen Arbeiten, beim Abriss und beim Rohbau würden mehr migrantische Arbeitskräfte eingesetzt als bei spezialisierten Tätigkeiten kurz vor der Fertigstellung. Vielleicht aber, sagt sein Kollege Ismael, meldet sich im Laufe der kommenden Tage doch noch einer der Arbeiter, auch mit ein paar Ukrainern und Polen konnte die Gruppe sprechen. Das sei sogar nicht ungewöhnlich, dass die Beschäftigten nicht sofort und vor ihren Kollegen über ihre Probleme sprechen wollten, sagt Ismael.
Der Europäische Gerichtshof 2019 und daraufhin auch das Bundesarbeitsgericht 2022 urteilten, dass die Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sind. Anders als in anderen Ländern fehlt in Deutschland aber eine gesetzliche Verankerung, teilt die Bema mit. Daniel Wucherpfennig vom DGB Berlin kritisiert in diesem Zusammenhang die Pläne der Bundesregierung, das Arbeitszeitgesetz zu reformieren. »Wir brauchen mehr Schutz für die Beschäftigten«, sagt Wucherpfennig. Die Bundesregierung habe aber andere Pläne, dabei hätten 2024 immer noch 4,4 Millionen Beschäftigte mehr gearbeitet, als in ihrem Arbeitsvertrag vereinbart war. »Und«, sagt Wucherpfennig, »jede*r Fünfte von ihnen hat diese Mehrarbeit sogar unbezahlt geleistet«.
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