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Jesus schenkte mir Zigaretten – es war Ernst Kahl
Eine Erinnerung an den großen Künstler Ernst Kahl, dem eine neue Ausstellung bei München gewidmet ist
Eigentlich habe ich den im Juli verstorbenen Ernst Kahl immer nur aus der Ferne bewundert: Für seine großartigen Zeichnungen und Gemälde, die wir in der »Titanic«, wo ich Redakteur war, veröffentlichten und die man zusätzlich in »Konkret« bewundern konnte. Für seine Songs, die er mit Hardy Kayser herausgebracht hat, für seine Darstellung des Getränkemanns in Detlev Bucks »Wir können auch anders« und überhaupt für diesen großartigen Film, den er mit Buck zusammen schrieb und der so viel wahrer ist als das meiste deutsche Gefilme. Das ist ja in der Regel so verkehrt, dass man Gefahr läuft, vor Ekel und Entsetzen aus dem Kino zu rennen.
In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre und zu Beginn dieses Jahrtausends traf ich Ernst aber auch hin und wieder persönlich. Meistens war der Anlass einer der großen Satiriker- und Karikaturistenauftriebe, wie die Triennale im thüringischen Greiz, Ausstellungseröffnungen in der Cartoon-Fabrik Köpenick (damals noch im schönen Berliner Stadtteil Friedrichshagen) oder – seltener – auf Partys der Titanic-Redaktion.
An eine »Titanic«-Party erinnere ich mich aber besonders gut, weil Ernst hier als mein Tröster auftrat. Trost hatte ich in dieser Dezembernacht 1999 besonders nötig. Gefeiert wurde das 20. Jubiläum der »Titanic« in den Gewölben des Frankfurter Karmeliterklosters, und die ganze deutschsprachige Cartoonisten- und Satireblase war gekommen. Ich war zum ersten Mal seit dem Sommer wieder unter Leuten. Denn im August desselben Jahres war ich in ein sehr tiefes Loch auf Beton gestürzt und hatte mir dabei den Oberschenkel zertrümmert. Danach hatte ich Monate in der Charité und dann in einer Rehaklinik verbracht. Auch jetzt im Dezember ging ich noch an Krücken.
Ich freute mich, endlich mal wieder andere Leute zu sehen als Ärzte, Krankenschwestern und die Physiotherapeutin im Bewegungsbad des Urbankrankenhauses. Und zunächst ließen sich die Feierlichkeiten auch gut an, obwohl Erik Weihönig, der damalige Verleger der »Titanic«, jedem auf der Party, der es nicht hören wollte, erzählte, er hätte mich in Berlin mit seinem Mercedes über den Haufen gefahren: »Deshalb läuft er jetzt an Krücken. Ha, ha, ha. Witzig, was?« Dafür fragte mich aber die schöne Tine, ob mir »die Damen« schon Avancen gemacht hätten. Die stünden nämlich auf Humpler.
Das hatten »die Damen« allerdings nicht. Vielleicht lag das auch daran, dass ich zu dem Abend mit meiner Freundin gekommen war? Das entpuppte sich jedoch als Fehler. D., die bei solchen Anlässen gerne vehement dem Alkohol zusprach, war nämlich mit einem Mal verschwunden. Vorher hatte ich gesehen, wie sie es zuließ, dass ein wildfremder Mann seinen Arm um sie legte, woraufhin wiederum sie ihm Dinge ins Ohr flüsterte, die ich mir eigentlich nicht ausmalen wollte.
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Ich malte aber mit dem dicksten Pinsel. Kurz zuvor hatte mir ein alter Freund und Kollege eine Ecstasy-Pille geschenkt, die ich ohne großes Federlesen eingeworfen hatte. Entspannte mich solcherlei Drogenkonsum normalerweise, war dieses Mal das Gegenteil der Fall. Meine Gedanken liefen Amok, wobei sie zwischen rasender Eifersucht und echter Sorge um die Freundin schwankten. Hatte der Typ nicht ausgesehen wie der kleine Bruder von Jeffrey Dahmer? Auf jeden Fall hielt ich es nicht mehr im Karmeliterkloster aus und wollte D. suchen. Ich schnappte mir die Krücken und humpelte auf die Straße hinaus.
Ich kam nur ein paar Meter weit, da stand plötzlich ein Mann vor mir. Er schien mir sehr groß zu sein, mindestens einsfünfundachtzig. Außerdem ging ein diffuses – im Ernst, ich lüge nicht – blaues Leuchten von ihm aus. Das Erste, was ich dachte, war: Das muss Jesus sein. Aber der Riese war Ernst Kahl. Das ist um so merkwürdiger, da Ernst ja eher von kleiner Statur war. Doch diese Ernst-Version war wirklich groß, so wie ich mir Jesus vorstellte. Ihre Stimme klang auch unglaublich einschmeichelnd, allwissend und mild. Ernst sagte irgendetwas zu meinem Bein und den Krücken – fragte er wirklich, ob er mich heilen solle? – und schob dann sofort besorgt nach: »Oder habe ich dich mit meiner Bemerkung verletzt?«
»Nein, nein, ganz und gar nicht. Wär ja schön.« Auf jeden Fall waren wir im Gespräch. Das heißt, es war hauptsächlich ich, der redete. Ich vertraute Ernst meinen ganzen Lebenskummer an. Nein, über die anscheinend entlaufene Freundin sprach ich nicht, das war mir zu peinlich. Aber ich jammerte ihm von meinem Krüppeldasein vor. Und ich erzählte ihm von meinen Schwierigkeiten beim Drehbuchschreiben. Ich arbeitete damals in schlimmen Fernseh-Comedy-Scherzbergwerken, um Geld heranzuschaffen. Und das Geschriebene war so schlecht, dass ich mich nach jedem in den Rechner gehackten Satz schämte.
Irgendwann öffnete auch Ernst den Mund, und aus ihm perlten folgende Worte: »Ja, kenne ich. Ist wirklich oft furchtbar, was beim Drehbuchschreiben herauskommt.«
Ich war gerührt. Ernst Kahl, der Jesus unter den Humoristen, sprach mit mir wie zu seinesgleichen. Und dann tat er auch noch etwas, das mindestens so groß war wie die Speisung der Fünftausend. Am Ende unseres Gesprächs, als uns beiden zu frösteln begann, bat ich ihn um eine Zigarette. Ernst griff prompt in die Tasche seiner Jacke, holte eine Schachtel heraus und schenkte mir die ganze Packung. Wohlgemerkt: Das war wohl so gegen zwei Uhr morgens. Das ist der Zeitpunkt, an dem auf Partys regelmäßig sämtliche Zigarettenvorräte ausgehen. Alle Raucher, die noch Zigaretten haben, fangen an zu knausern, ja leugnen sogar oft, dass sie noch welche haben, wenn man sie danach fragt. Selbst Jesus – wäre er Raucher gewesen – hätte jetzt kaum mehr als eine Zigarette rausgerückt. Doch Ernst verschenkte eine ganze Schachtel!
Ich war so beseelt, dass ich meine Freundin und Jeffrey Dahmer junior ganz vergessen hatte. Ich zündete mir gleich eine an und humpelte ins Karmeliterkloster zurück. D. fand ich auf einer der Bierbänke. Der Massenmörderbruder war verschwunden und sie freute sich ehrlich, mich wiederzusehen.
»Wo bist du denn gewesen?«, fragte D. »Ach, nur kurz draußen. Ein bisschen Erleuchtung abholen.«
Ich habe diese Geschichte nie jemandem erzählt, auch Ernst nicht. Das ist schade, schließlich war er es, der mir diese Nacht gerettet hat. Und manchmal zählt eine Nacht mehr als ein paar Jahre. Aber immerhin habe ich es dann doch noch geschafft, Ernst mitzuteilen, wie großartig ich ihn fand. Das war rund zwei Jahre später, im Mai 2002, auf einer Gala, die als Fundraising-Event zugunsten des Filmregisseurs Wenzel Storch im Thalia-Theater in Hamburg stattfand. Ich moderierte diesen Lesungsabend, bei dem unter anderem Rayk Wieland, Gerhard Henschel und Rattelschneck auftraten. Ganz zum Schluss, als Höhepunkt dieser glanzvollen Nacht, kamen Ernst Kahl und Horst Tomayer auf die Bühne, die damals öfter als »gemischtes Doppel« auftraten. Ich nutzte die Gelegenheit, um Ernst auf offener Bühne endlich zu gestehen, was ich von ihm gehalten habe:
»Dass Ernst Kahl ein großer Zeichner ist, der nicht nur einen Strich beherrscht – geschenkt! Dass man ihn auch als bedeutenden Maler kennt – okay! Dass er dazu noch komponieren und musizieren kann – soll es geben! Dass er hervorragende Gedichte und lustige Texte und sehr gute Filmdrehbücher schreibt, die darüber hinaus noch erfolgreich sind, akzeptiert! Dass er als Schauspieler voll überzeugt – meinetwegen! Dass er fließend Dänisch spricht – muss wohl so sein! Aber dass Ernst Kahl auch noch aus dem Stegreif spannende, fundierte, wohlformulierte Vorträge zu halten weiß, für deren Vorbereitung ich wohl Tage, wenn nicht Wochen bräuchte, das ... das ... das macht mich schier rasend und das verzeihe ich ihm nie.«
Ich habe leider vergessen, wie Ernst Kahl damals auf diese Lobpreisung reagierte. Ich vermute mal, er winkte ab, oder machte einen relativierenden Witz. Das hätte zu ihm gepasst, denn eigentlich war er ein Mann des hanseatischen Understatements. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass ich das noch losgeworden bin. Nach diesem Abend im Thalia sah ich Ernst nämlich nicht wieder. Ein gutes halbes Jahr später zog ich um nach Singapur, und zwei Jahre drauf nach Peking. Erst vor drei Jahren kehrte ich nach Deutschland zurück. Ich habe in dieser Zeit keine Gelegenheit mehr gefunden, Ernst wiederzusehen. Es gab einfach keine Auftriebe mehr, zu denen er und ich gleichzeitig eingeladen wurden. Zu schade: Ich hätte ihm gerne noch die Geschichte von der Nacht erzählt, als er für mich ein einsfünfundachtzig großer Jesus war.
Diesen Freitag eröffnet die Ausstellung »Reminiszenz an Ernst Kahl« in Bernried am Starnberger See bei München. Um 18 Uhr im »Kunstraum Aquarium« neben dem Rathaus, Dorfstraße 26
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