Gen Z-Proteste: Das Echo des Vorjahrzehnts

Mit ihren Protesten tragen junge Menschen die globale Revolte weiter, meint Nelli Tügel

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.
Von Jugendlichen angeführter Protest gegen Korruption und Missstände im Gesundheits- und Bildungswesen in der marokkanischen Stadt Casablanca
Von Jugendlichen angeführter Protest gegen Korruption und Missstände im Gesundheits- und Bildungswesen in der marokkanischen Stadt Casablanca

Zu den größten Eigentümlichkeiten der Gegenwart gehört für mich folgende Diskrepanz: Einerseits gingen im Jahrzehnt zwischen 2010 (dem Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings) und 2019/20 (als es zu einem weltweiten Ausbruch von Massenaufständen kam) mehr Menschen für ein besseres Leben und Freiheit auf die Straßen als jemals zuvor. Anderseits haben sich die wenigsten so artikulierten Hoffnungen und Forderungen erfüllt. Im Gegenteil sogar: Es sind heute vielerorts reaktionäre, autoritäre Kräfte, die nun ihrerseits Staatsapparate und faschistische Ideologien mobilisieren.

Ganz abgerissen ist der Faden des globalen Protestes aber nie. Dieser Tage wird er wiederaufgenommen, von den Kindern des zurückliegenden Jahrzehnts. In Nepal, Madagaskar, Marokko, Indonesien oder Kenia (dort schon seit vergangenem Jahr) begehren junge Menschen, Angehörige der Gen Z, auf – fröhlich und wütend, spontan und fordernd.

Nelli Tuegel

Nelli Tügel ist Redakteurin der Monatszeitung »analyse & kritik« und freie Journalistin. Hier nimmt sie Ausbeutung, Arbeiter*innenbewegungen und linke Strategien unter die Lupe.

Bemerkenswert ist, wie sehr diese neue Welle den Aufständen des Vorjahrzehnts ähnelt: Auslöser sind oft soziale Ungerechtigkeiten, konkrete Anlässe, die lang angestauten Frust freisetzen. In Indonesien gewährten sich die Parlamentsabgeordneten großzügige Zuschüsse, während viele unter Teuerungen und Sparpolitik leiden. In Marokko starben in einem Krankenhaus mehrere Gebärende; ein Symbol für das miese Gesundheitssystem. In Madagaskar lösten Ausfälle bei Strom- und Wasserversorgung die Demonstrationen aus. Weitere Gemeinsamkeiten: Es gibt kaum Anführer*innen und wenig Organisation. Polizeigewalt gegen die Proteste befeuert diese noch. Die Demonstrierenden entwickeln rasch eine eigene Ikonografie, die global vernetzend wirkt – was 2010 die Guy-Fawkes-Maske war, ist jetzt die Verwendung der »One Piece«-Piratenflagge –, und bringen mitunter, wie in Nepal, Regierungen zu Fall.

Die Proteste erinnern uns an etwas, das in der apokalyptischen Düsternis dieser Tage leicht aus dem Blick gerät: dass die Suche nach Gerechtigkeit, Solidarität und Lebensglück Menschen immer wieder ein Antrieb sein wird, auch wenn man es nicht kommen sieht. Die Zunahme aufstandsartiger Proteste erklärte der vor wenigen Monaten verstorbene Theoretiker Joshua Cover zudem mit dem Ende des Streik-geprägten Fordismus, wodurch die Revolten des Frühkapitalismus – in modernisierter Form – zurückkehrten. Andere Beobachter*innen und Teilnehmer*innen der Proteste des Vorjahrzehnts, etwa der Autor Vincent Bevins, betonen eher einen Mangel an Organisierung – die Massenorganisationen des 20. Jahrhunderts gibt es so nicht mehr – und sehen darin einen Grund dafür, dass trotz beeindruckender Mobilisierungen kaum Forderungen durchgesetzt werden konnten.

So oder so: Das Echo der Zehnerjahre ist nicht verstummt – logisch eigentlich, denn all die Widersprüche sind ungelöst geblieben. Es hat sich ein Berg enttäuschter Hoffnungen, aber auch ein Wissensschatz darüber angehäuft, dass die Macht der Regierungen nicht unantastbar ist. Das Echo der globalen Revolte wird also weitergetragen. So wie jetzt im Ruf der Jugend von Jakarta, Antananarivo oder Kathmandu.

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