Euphorie in Trümmern

Die neue arabische Solidarität ist der größte Garant des Friedensabkommens

  • Mirko Keilberth
  • Lesedauer: 5 Min.
Es dauerte nur Minuten nach dem Waffenstillstand, bis sich die Menschen auf den Weg nach Gaza machten.
Es dauerte nur Minuten nach dem Waffenstillstand, bis sich die Menschen auf den Weg nach Gaza machten.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Schon Stunden vor Beginn des Waffenstillstands begannen israelische Armeeeinheiten mit dem Rückzug aus dem zerstörten Zentrum von Gaza-Stadt. Obwohl noch vor der Küste liegende israelische Kriegsschiffe auf die Küstenstraße feuerten, begannen palästinensische Familien am Freitagmorgen ihre Sachen zu packen. Noch in der Nacht deutete kaum etwas darauf hin, dass Frieden einkehren würde. Riesige Staubwolken zeigten die Einschlagorte israelischer Bomben, ein Scharfschütze der Hamas töte einen Feldwebel der Armee.

Minuten nach Beginn des Abkommens zogen bereits Zehntausende durch die apokalyptische Trümmerlandschaft zurück zu ihren Häusern. Die am Rande der kilometerlang nach Norden ziehenden Menschenmassen stehenden Reporter des Nachrichtensenders Al Jazeera haben ihre Helme und schusssicheren Westen abgelegt. Bei ihren Fragen nach der Zukunft wiegeln viele der Vorbeigehenden ab. »Wir bleiben. Mehr weiß ich auch noch nicht«, sagt ein Mann und strahlt.

»Ich baue unser Haus wieder auf. Ja, der Waffenstillstand vom Frühjahr ist gescheitert, aber dieser wird halten«, sagt der Lehrer Faisal el Masri dem »nd« am Telefon. Morgen beginne er die Trümmer wegzuräumen, sagt der 43-Jährige. »Denn neben Trump haben nun auch arabische Präsidenten persönlich die Verantwortung für Gaza übernommen.«

Israelische Geiseln sollen am Wochenanfang freikommen

Am Montag könnten die ersten israelischen Geiseln freikommen, kündigte Benjamin Netanjahu in einer Rede vor der Knesset an. Inmitten der israelischen Parlamentarier waren auch Trumps Schwiegersohn Jared Kushner und der Nahost-Sondergesandte Steve Witkoff zu sehen. Sie hatten die Verhandlungen geleitet und sollen nun offensichtlich sicherstellen, dass Netanjahus Koalitionspartner das Abkommen wie angekündigt platzen lassen. Donald Trump soll am Sonntag das von der Hamas als Ende des Gaza-Krieges bezeichnete Dokument unterzeichnen, danach wird er in Israel freigelassene Geiseln empfangen.

Den Erfolg seines Plans hat Trump vor allem der Hartnäckigkeit der Diplomaten aus Kairo, Katar und in anderen arabischen Hauptstädten zu verdanken. Denn als er die 20 Punkte veröffentlichte, herrschte vor allem bei den zur UN-Vollversammlung nach New York gereisten Diplomaten aus den Golfländern Schockstarre. Israels Premier Netanjahu hatte in der vorab zwischen Washington mit den arabischen Alliierten koordinierten Version Änderungen durchgedrückt. Nach Netanjahus Vorstellungen ist die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza noch nicht vom Tisch.

Endloser Krieg Gefahr für die Golfstaaten

Doch Israels arabische Nachbarn entschieden sich dafür, das Kleingedruckte zu ignorieren und den Friedensprozess ähnlich wie Trump als Dynamik zu verstehen. Ein endloser Krieg in Gaza gefährdet das Geschäftsmodell der Golfstaaten und würde islamistische Gruppierungen auf den Plan rufen. Sollten israelische Ultraradikale die palästinische Bevölkerung auf den Sinai vertreiben, drohen Ägyptens Präsident Abdel Fattah Al-Sisi Straßenproteste, die ihm aufgrund der wirtschaftlichen Misere im Land gefährlich werden können.

Die Palästinenser kehren in ein weitestgehend zerstörtes Gaza zurück.
Die Palästinenser kehren in ein weitestgehend zerstörtes Gaza zurück.

Im Präsidentenpalast in Kairo steht man zudem der Hamas wegen ihrer Nähe zu der Ideologie der Muslimbrüder genauso kritisch gegenüber wie in Amman, Riad und Abu Dhabi. In Regierungskreisen und den Cafés in Tripolis oder Algier herrscht zwar auch für den bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzung Sympathie. Doch in Algerien und Libyen sind gleichzeitig die Erinnerungen an die »Dunklen Jahrzehnte« noch hellwach. In den 90er Jahren und nach dem arabischen Frühling hatte der Machtkampf zwischen islamistischen Milizen und den staatlichen Sicherheitskräften Tausende Opfer gefordert.

Vorläufiges Kriegsende sorgt in arabischen Staaten für Erleichterung

Selbst in Tunesien, wo die PLO von Yasser Arafat zeitweise im Exil residierte und es fast täglich zu propalästinensischen Demonstrationen kommt, sehen viele die mögliche Aufnahme der Hamas-Führungsriege aus Gaza mit Sorge.

Überall zwischen Casablanca und Bagdad wird das vorläufige Ende des Gaza-Krieges mit großer Erleichterung aufgenommen. Und mit Stolz, dass Aktivisten des »Global Sumud«-Schiffskonvois nach Gaza und Diplomaten aus der Region dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben.

In einem Hinterzimmer-Treffen während der UN-Vollversammlung hatten die Vertreter von acht arabischen Ländern im September Trump klargemacht, dass sie der ethnischen Säuberung des Gaza-Streifens und fortgesetzten israelischen Angriffen nicht weiter tatenlos zuschauen würden. Trump fürchtete um die Milliardeninvestitionen vom Golf in den USA und machte erstmals Druck auf Benjamin Netanjahu.

Erfolg vom Friedensplan hängt von erster Phase ab

In Scharm El Sheik waren es dann der angereiste türkische Geheimdienstchef Ibrahim Kalin und Katars Premier Mohamed al Thani, die Hamas-Funktionäre davon überzeugten, die Geiseln gleich zu Beginn des Abkommens freizulassen. In der kommenden Woche werden Soldaten aus Katar, Jordanien und Saudi-Arabien und den USA in Israel ein Kommandozentrum eröffnen, das die Umsetzung des Waffenstillstandes überwachen soll. In der zweiten Phase könnte eine mehrheitlich aus muslimischen Ländern kommende UN-Friedenstruppe in Gaza stationiert werden.

Doch schon in den nächsten Tagen hängt es von Experten aus der Region ab, ob die allererste Phase des Abkommens umgesetzt wird. Eine internationale Taskforce mit Experten aus Israel, den USA, Ägypten, Katar, der Türkei und vom Roten Kreuz soll nach den toten israelischen Geiseln suchen, die unter den Trümmern von Gaza-Stadt verschollen sind.

In einer zweiten Verhandlungsphase wollen Katars Premier Mohamed al Thani und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas die bereits 2002 von der Arabischen Friedensinitiative formulierten Bedingungen für einen langfristigen Frieden diskutieren: die Gründung eines palästinensischen Staates mit Jerusalem als Hauptstadt im Austausch für die Normalisierung der Beziehungen zu Israel.

Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.

Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen

Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.