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Grundgesetz: Leerstelle Schutz sexueller Identität

Eine Initiative, das Verbot der Diskriminierung nicht-heterosexueller Lebensweisen zu verankern, hat wenig Aussicht auf Erfolg

»Grundgesetz für alle«: Derzeit hat eine Grundgesetzänderung für den ausdrücklichen Schutz der sexuellen Identität keine Zweidrittelmehrheit im Bundestag.
»Grundgesetz für alle«: Derzeit hat eine Grundgesetzänderung für den ausdrücklichen Schutz der sexuellen Identität keine Zweidrittelmehrheit im Bundestag.

Im Grundgesetz (GG) klaffe eine Lücke, klagt Nyke Slawik. Mehr noch: »Eine historische Wunde, ein bedrohliches Schweigen«. Es geht um den dritten Artikel der deutschen Verfassung, genauer gesagt um Absatz 3. Darin heißt es: »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Kein Wort von einem Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung.

Ende vergangener Woche brachten die Grünen zum wiederholten Mal einen Entwurf für eine Grundgesetzänderung ein, die das ändern soll. Die Debatte im Bundestag zeigte: an den Argumenten auf Seiten der Befürworter und Gegner hat sich wenig geändert. Unionspolitiker finden den im Entwurf verwendeten Begriff »sexuelle Identität« zu schwammig und sehen den Vorstoß als »reine Symbolpolitik«, da queeres Leben bereits jetzt durch das Grundgesetz ausreichend geschützt sei. Was ist dran an diesen Begründungen?

Was heißt »sexuelle Identität«?

In der Tat mag es irritieren, dass nicht der international gebräuchliche Begriff »sexuelle Orientierung« verwendet wird. Doch schon in der Expertenanhörung 2020, als sich FDP, Linkspartei und die Grünen für eine Einfügung des Merkmals sexuelle Identität einsetzen, gab die Rechtswissenschaftlerin Ulrike Lembke zu bedenken: »Bereits die Diskussionen um eine Ergänzung von Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz im Jahr 1994 wurden mit dem Terminus der ›sexuellen Identität‹ geführt«. Außerdem sei in mehreren Landesverfassungen schon heute von sexueller Identität die Rede, genau wie in mehreren Bundesgesetzen wie etwa dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, wo der Begriff keine Probleme bereite.

Ausdrücklich nicht unter »sexuelle Identität« fallen verschiedene geschlechtliche Identitäten, wie trans, inter und Nicht-Binärität. Diese seien aber bereits durch die Erwähnung von »Geschlecht« in Artikel 3 Absatz 3 gedeckt, sind sich die meisten Expert*innen einig.

Die von der AfD angeführten Bedenken, mit einer Änderung des Grundgesetzes öffne man Tür und Tor für den Schutz von Pädosexualität, also sexuellen Handlungen von Erwachsenen an oder mit Kindern, entpuppen sich übrigens schnell als Panikmache. Denn Artikel 3 GG schützt gegen Diskriminierung, nicht gegen Strafverfolgung bei Verstößen gegen bestehendes Recht. Unabhängig davon verwies die Bundesregierung Anfang des Jahres in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der AfD darauf, dass der Begriff der sexuellen Identität in mehreren Gesetzen Verwendung findet und Pädophilie dort auch nicht mitgemeint ist; das entspreche auch dem aktuellen Stand der Sexualforschung.

Ist die sexuelle Orientierung bereits ausreichend geschützt?

Kommen wir zu einem weit verbreiteten – und durchaus ernstzunehmenden – Einwand gegen eine Erweiterung von Artikel 3 Absatz 3: Sämtliche Unionspolitiker argumentierten, eine solche würde den Schutz von queerem Leben nicht verbessern. Schließlich leite sich ein Diskriminierungsschutz sexueller Minderheiten schon heute aus dem ersten Absatz von Artikel 3 GG ab (»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.«). Inzwischen gebe es eine »gefestigte Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts«, die vor einer ungerechten Behandlung aufgrund der sexuellen Orientierung schütze. Ähnlich formulierte es auch Ferdinand Wollenschläger, Rechtswissenschaftler und Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, in seiner damaligen Stellungnahme zum Gesetzentwurf von FDP, Linke und Grünen. Er sah durch eine entsprechende Erweiterung von Artikel 3 »keine nennenswerte Verstärkung des Schutzes vor entsprechenden Diskriminierungen im Vergleich zur aktuellen Rechtslage«.

Dem entgegnete der Verband queere Vielfalt (LSVD): »Diese Rechtsprechung bietet aber keine dauerhafte Sicherheit vor einer möglichen anderen Auslegung.« Ähnlich wird in der Begründung des nun diskutierten Gesetzentwurfs aus dem Bundesrat argumentiert. Darin wird auf gegenwärtige Rückschritte in der gesellschaftlichen Akzeptanz »nicht-heteronormativer Lebensweisen« verwiesen: »Derartige Schwankungen sprechen dafür, dass ein explizites Diskriminierungsverbot im Verfassungstext benötigt wird.«

Rechtswissenschaftlerin Lembke betonte, dass unabhängig von der aktuellen Auslegung des Bundesverfassungsgerichts Minderheitenschutz »im demokratischen Rechtsstaat zuvörderst die Aufgabe des (verfassungsändernden) Gesetzgebers« sei. Außer ihrem Kollegen Wollenschläger, der in der Grundgesetzändeerung lediglich ein legitimes Anliegen sah, das »politisch zu bewerten sei«, sprachen sich vor rund fünf Jahren alle Experten für eine Aufnahme der sexuellen Identität in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes aus.

Der »Anfangsfehler« des Grundgesetzes

Dabei geht es um mehr als reine Rechtsfragen. Um das zu verstehen, hilft ein Blick auf die Ursprünge des Artikels: Dieser sollte insbesondere von den Nationalsozialisten verfolgte Minderheiten schützen. Vor dem Hintergrund der Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit, der strukturellen Diskriminierung in den Jahrzehnten danach – teilweise mit Berufung auf das Grundgesetz – und der aktuell wieder ansteigenden Gewalt gegen queere Menschen ist es deshalb für viele höchst irritierend, dass die sexuelle Orientierung nicht explizit in Artikel 3 erwähnt wird.

Die zahlreichen Versuche, diesen »Anfangsfehler« des Grundgesetzes – so bezeichnet es der LSVD – zu beheben, scheitern seit 1993 immer wieder. Vor dem erwähnten Vorstoß im Jahr 2019 gab es 2010 einen parlamentarischen Anlauf, um einen Diskriminierungsschutz aufgrund der sexuellen Identität im Grundgesetz festzuhalten. Die Ampel schrieb sich eine entsprechende Änderungsabsicht zwar in den Koalitionsvertrag. Geworden ist daraus aber nichts.

Im Jahr 2023 war es mit Kai Wegner (CDU) ausgerechnet ein Politiker jener Partei, die dem Vorhaben schon mehrmals ihre entscheidenden Stimmen versagte, der das Thema neu aufrollte. Bei der Eröffnung des Berliner Christopher Street Days kündigte er an: »Meine feste Zusage für diesen Berliner Senat ist: Wir wollen den Artikel 3 des Grundgesetzes ändern. Da muss die sexuelle Identität mit rein. Das ist mein Versprechen.«

Ende September trugen die Bemühungen dann erste Früchte: Der Bundesrat verabschiedete einen Gesetzentwurf zur Ergänzung von Artikel 3 Absatz 3 im Grundggesetz um das Merkmal der sexuellen Identität. Damit hat die Bundesregierung sechs Wochen Zeit, sich zu dieser Gesetzesinitiative der Länder zu äußern. Dann ist der Bundestag am Zug. Fristen, innerhalb derer sich das Parlament mit dem Gesetzentwurf befassen muss, gibt es aber nicht. Vielleicht um den Prozess zu beschleunigen, hat daraufhin die Grünen-Fraktion einen gleichlautenden Gesetzesvorschlag selbst eingebracht.

Während Die Linke den Vorstoß vorwiegend begrüßte, zeigte sich die SPD mit der Sache einverstanden, kritisierte aber das Vorgehen der Grünen als »Schnellschuss«. Auch wenn sich drei CDU-Ministerpräsidenten im Bundesrat für die Gesetzesinitiative aussprachen, machte die erste Lesung des Gesetzentwurfs im Bundestag deutlich, dass die Union immer noch weit von einer Zustimmung entfernt ist. Einzige Ausnahme am Rednerpult: David Preisendanz. Der CDU-Abgeordnete bezeichnete das Fehlen der sexuellen Identität in Artikel 3 bereits vorab als »Webfehler unseres Grundgesetzes«. Im Plenarsaal sprach er sich dann für eine Grundgesetzänderung aus und sagte: »Ich halte diese Signalstellung für wichtig.«

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