Dörfer der Welt zu Gast in Eberswalde

Das Filmfest Provinziale stellt das Leben von Menschen in Orten jenseits der Metropolen in den Mittelpunkt

Harte Arbeit zwischen den ehrfurchtgebietenden Gipfeln: Menschen aus Sadpara im pakistanischen Karakorum-Gebirge sind unverzichtbare Helfer von Bergsteigern aus dem Globalen Norden.
Harte Arbeit zwischen den ehrfurchtgebietenden Gipfeln: Menschen aus Sadpara im pakistanischen Karakorum-Gebirge sind unverzichtbare Helfer von Bergsteigern aus dem Globalen Norden.

Der große Saal im Haus Schwärzetal ist bis auf den letzten Platz besetzt, als es am Wochenende losgeht. Das internationale Filmfest Provinziale im brandenburgischen Eberswalde ist offenbar eine feste Größe im Kulturkalender vieler Menschen hier. Sehquenz e. V., Verein für kommunale Filmarbeit, lädt schon seit 2003 alljährlich dazu ein. Die Mitglieder des überwiegend ehrenamtlich arbeitenden Programmbeirats schauen sich von Jahresbeginn bis in den Sommer hinein Hunderte Kurzspielfilme, Dokumentationen und Animationsfilme an. In diesem Jahr haben sie unter den Einsendungen 33 aus 20 Ländern ausgewählt.

Der Name ist Programm: Im Grundsatz geht es um das Leben jenseits der Großstädte. Darum, was Menschen in Dörfern und kleinen Städten, auf Inseln oder in abgeschiedenen Tälern hält, was sie in die Flucht treibt oder zur Rückkehr veranlasst. Was sie an diesen Orten lieben und hassen.

Sehquenz holt also die Provinzen der Welt ins kollektive Eberswalder Wohnzimmer oder entführt das Publikum dorthin. Gleich zu Beginn nimmt Gabriele Canu das Publikum mit auf eine Reise nach Sadpara im pakistanischen Hochland des Karakorum-Gebirges. Der Italiener, selbst begeisterter Alpinist, wollte jene Menschen in den Mittelpunkt stellen, ohne die die Abenteuer der Extrembergsteiger, ihre Expeditionen auf den K2, den zweithöchsten Berg der Welt, und andere gefährliche Gipfel gar nicht stattfinden könnten.

In Nepal werden sie Sherpas genannt, im Film Träger, Köche, Bergführer. Einer von ihnen ist selbst ein berühmter Alpinist geworden: Muhammad Ali Sadpara, der mit dem Besteigen von 8000ern ohne Flaschensauerstoff von sich reden machte. Beim Winteraufstieg auf den K2, dem zweiten überhaupt, kam er im Februar 2021 ums Leben. Sein Sohn Sajid war 400 Meter unterhalb des Gipfels umgekehrt.

Auch die anderen Bewohner tragen ihr Dorf in ihrem Namen. Die Leute in Sadpara haben ein paar Autos und Motorräder, sind aber weitgehend Selbstversorger. Männer ziehen im Sommer mit Rindern, Schafen, Ziegen in höhere Gefilde, vergleichbar mit dem Almauftrieb. Dort leben sie in dunklen Steinbehausungen. Melken die Tiere, führen sie zur nächsten Weide. Füllen Milch in Schafshäute, die sie dann prall aufpusten und stundenlang hin- und herschütteln, wohl um ein haltbares Produkt herzustellen.

Die Männer, die im Alpinismus-Business arbeiten und damit auch ihren Kindern eine gute Ausbildung in der Stadt ermöglichen wollen, transportieren auf dem Rücken gewaltige Lasten über weite Strecken, Gletscher und halsbrecherische Pfade. Zu Gabriele Canu fassten die Bewohner von Sadpara offenbar schnell Vertrauen. Die Männer erlaubten den Frauen aber nicht, mit dem Fremden zu sprechen. Sie selbst erzählen von Generationenkonflikten, die einem vertraut vorkommen. Und einer sagt: Wir reden immer nur über Berge, Berge, Berge, Berge – ich weiß nicht, warum.

Nun, das Reden hat auch einen praktischen Aspekt. Man tauscht sich sicher darüber aus, wo besondere Gefahren lauern. Denn auch, wenn man dem Tod am Berg täglich ins Auge blickt und ihn im Fall des Falles als gottgegebenes Schicksal akzeptiert: Wenn möglich, möchte man ihm schon aus dem Weg gehen. Am Saisonende gibt es ein großes Fest, bei dem auch gefeiert wird, dass alle Männer wohlbehalten wieder ins Dorf zurückgekehrt sind. Dem einfachen, von körperlicher Anstrengung und durchaus auch Freude daran geprägten Leben der Menschen in Sadpara zuzuschauen, hat in Zeiten wie diesen etwas Tröstliches.

Tröstlich, weil sehr witzig ist auch der Animationsfilm »Himmel wie Seide. Voller Orangen« von Betina Kuntzsch. Mit digital animierten Fotoschnipseln aus dem Jahr 1990 erzählt sie von den ersten Reisen von DDR-Bürgern nach Mallorca. Wie sie gestaunt und genossen haben und erste Bekanntschaft mit den Brüdern und Schwestern aus dem Westen machten, die ihnen erklärten, wo es langgeht.

Düster-surreal dagegen der in Schwarz-Weiß gedrehte Kurzspielfilm »Mayonnaise« von Giulia Grandinetti über ein in einem albanischen Dorf lebendes Mädchen: Elyria begehrt gegen die Eltern auf, als diese sie zwangsverheiraten wollen.

Der russische Dokfilm über den »Visionär von Artjuschkino« ist wiederum eher ein kleines Stück über Konflikte auf dem Dorf, wie man sie auch in Brandenburg kennt: Alteingesessene, deren Tiere und Maschinen auch mal Dreck und Lärm machen, gegen Städter, die auf dem Land nur Stille und Idylle erwarten. Und ein Stück darüber, dass die meisten Leute so sehr in den Angelegenheiten vor ihren Augen leben, dass die großen Konflikte und Bedrohungen selbst vor der eigenen Haustür gar nicht zu ihnen durchdringen.

Protagonist Rinaldo Mallyamov, der titelgebende Visionär, macht da keine Ausnahme: Er hat sich ganz der Tierzucht verschrieben, hält verschiedenste Rinder- und Schafrassen ganzjährig draußen und will sehen, welche am besten mit großer Kälte klarkommen. Ihm schwebt vor, die Arktis stärker für die Tierhaltung zu nutzen.

Zugleich ist er an Kommunikation mit denen, die noch so im Dorf leben und sich über ihn aufregen, nicht interessiert. Das erzählt Filmemacherin Ilona Vashkelite im anschließenden Gespräch. Seine Kontrahentinnen sind alte Frauen, die dem Filmteam erklären, warum dieser Rinaldo unmöglich ist und sie Anzeige gegen ihn erstatten wollen.

Am Ende des Eröffnungstages konnte man bis in den Sonntagmorgen eine »Nacht des Bauernfilms« feiern. Antje Schiffers präsentierte Werke ihres ziemlich einmaligen Langzeitprojekts »Ich bin Bauer und will es bleiben«. Das Publikum durfte unter verschiedenen Kurzdokus der Malerin und Filmemacherin über das Leben von Landwirten in Europa, Südafrika und anderswo wählen.

Die Filme basieren auf einem Deal: Viele Bauern mögen es, ein Ölgemälde ihres Hofes in ihre gute Stube zu hängen. Antje Schiffer malt ihnen eines – wenn sie im Gegenzug bereit sind, für eine Dokumentation über ihr Leben zu sprechen und zu begründen, warum sie an ihrem Beruf hängen, und natürlich ihre Felder, Ställe und Tiere zu zeigen. Seit dem Jahr 2000 sind so um die 40 Kurzfilme entstanden.

Am 18. Oktober endet das Filmfest mit Preisverleihung und Abschlussparty. Die mit je 1000 Euro dotierten Auszeichnungen »Rose« für die berührendsten und »Distel« für künstlerisch besonders anspruchsvolle Werke in den Sparten Dokumentarfilm, Kurzdoku, Kurzspielfilm und Animationsfilm werden vom Publikum vergeben. Die Jury zeichnet nur einen Film mit dem »Stachel« aus, nominiert sind Werke aus allen vier Sparten. Dieser Preis ist mit 2000 Euro dotiert.

https://provinziale.de

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