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Zwischen Niedriglohn und Mietenwahnsinn
Wohnen macht viele arm und wenige reich – das wird zu einem Problem des Wachstums
Arme Menschen finden insbesondere in Großstädten keine bezahlbare Wohnung mehr, viele werden wohnungslos. Gleichzeitig ist es das Wohnen selbst, das zunehmend arm macht. Denn die Mieten steigen unaufhörlich, was einige wenige reich macht. Allerdings gefährden die wachsenden Ansprüche der Grundeigentümer laut Ökonom*innen inzwischen sogar das Allerheiligste: das Wirtschaftswachstum.
Nach konventioneller Berechnung sind in Deutschland 14,4 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Ein anderes Bild ergibt sich allerdings, wenn man die Wohnkosten (Warmmiete inklusive Stromkosten) berücksichtigt und das Einkommen ermittelt, das die Menschen tatsächlich zum Leben frei verfügbar haben. In dieser Berechnung sind nach einer Studie der Paritätischen Forschungsstelle von Ende vergangenen Jahres 5,4 Millionen Menschen mehr von Armut betroffen. Insgesamt leiden damit 17,5 Millionen Menschen unter Wohnarmut, das sind 21,2 Prozent der Bevölkerung.
Wohnen entwickelt sich mehr und mehr zum Armutstreiber. Grund dafür sind die steigenden Mieten, die Ökonom*innen mit der Lage erklären: Einer hohen Nachfrage gerade in Ballungszentren stehe ein beschränkt wachsendes Angebot gegenüber. Die daraus folgenden Mietsteigerungen sind allerdings kein Naturgesetz, vielmehr ist für die Grundeigentümer die Knappheit ihres Gutes eine Gelegenheit, von den Mietern mehr Geld zu verlangen. Das zeigt sich insbesondere bei den Neuvermietungen: Hier legten die Mieten seit 2013 in Deutschland um die Hälfte zu, in Berlin verdoppelten sie sich sogar, so das Institut der Wirtschaftsforschung (Ifo).
Mangel als Gelegenheit
In der Folge eignet sich das Grundeigentum immer größere Anteile der Zahlungsfähigkeit gerade der ärmeren Haushalte an. Im einkommensschwächsten Viertel frisst die Bruttokaltmiete im Durchschnitt 35 Prozent des Nettobudgets. Bei Neuvermietungen in Großstädten liegt der Anteil sogar bei fast 50 Prozent, so das Ifo – 2014 waren es »nur« 38 Prozent.
Mit den Mieten steigen die Kaufpreise für Wohnungen und Flächen. Zusammen mit den höheren Preisen der Bauunternehmen führt das dazu, dass zwar neuer Wohnraum entsteht, der allerdings teuer ist – schließlich verlangen Bauherren wettbewerbsfähige Renditen. Bauen für Arme lohnt sich nicht. Am Verhältnis von Angebot und Nachfrage wird sich daher kaum etwas ändern. »Wohnungen sind weiter knapp«, so die Commerzbank, »hier ist derzeit keine Entspannung der Lage in Sicht.« Der anhaltende Mangel ist wiederum eine gute Voraussetzung für die Investoren, nicht nur in Deutschland: »Alle G20-Staaten haben in den letzten fünf Jahren ihre jährlichen Wohnungsbauziele verfehlt, was zu einem Anstieg der Immobilienpreise und Mieten geführt hat«, so das Investmenthaus Knight Frank. »Die Investitionsmöglichkeiten im Wohnimmobiliensektor sind enorm – und nehmen weiter zu.«
Profiteure der Entwicklung sind aber nicht nur Finanzanleger und Wohnungskonzerne, sondern auch private Hausbesitzer – also jene, »die in ihren selbst bewohnten Mehrfamilienhäusern oder in einer überschaubaren Zahl weiterer Immobilien Wohnungen vermieten«, erklärt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Auf sie entfallen zwei Drittel des deutschen Mietwohnungsmarktes – und sie sind eine seltene Spezies. In Berlin beispielsweise machen »Kleinvermieter« laut IW nur rund sieben Prozent der Haushalte aus. Deutschlandweit nahmen ihre Nettomieteinnahmen allein zwischen 2015 und 2020 mehr als 30 Prozent zu. Nur knapp ein Drittel von ihnen kassiert allerdings Netto-Mieteinnahmen von 10 000 Euro und mehr im Jahr.
Was die Elite an der Armut stört
Die Kluft zwischen dem, was gerade die Einkommensschwächeren verdienen und dem, was ihre Vermieter von ihnen verlangen, beunruhigt inzwischen auch die Spitzen der Politik. »Die Immobilienpreise sind seit 2015 um mehr als 20 Prozent gestiegen«, mahnte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen in ihrer jüngsten Rede zur Lage der Union. »Das ist mehr als eine Immobilienkrise. Es ist eine soziale Krise.« Dabei geht es ihr allerdings weniger um die Probleme, die die Armen haben, sondern mehr um die Probleme, die sie der Politik bereiten: »Junge Menschen verschieben die Gründung einer Familie«, so von der Leyen. Die Krise »schwächt unseren Zusammenhalt. Und sie bedroht auch unsere Wettbewerbsfähigkeit. Krankenschwestern, Lehrer und Feuerwehrleute können es sich nicht leisten, dort zu leben, wo sie arbeiten.« Auch das Ifo warnt, Wohnraummangel könne gerade in Städten zu »Arbeitskräfteengpässen« führen und dadurch zum »Wachstumshindernis« werden. Wie das?
Laut IW ziehen Menschen vermehrt in Ballungsräume. Besonders dynamisch wüchsen dabei die »Pole der Lohnverteilung: Zum einen nehmen Hochlohnberufe deutlich zu, insbesondere in IT, Finanzdienstleistungen und unternehmensnahen Dienstleistungen, die von Wissensökonomie und Agglomerationsvorteilen profitieren. Zum anderen expandieren personenbezogene Dienstleistungen eher am unteren Ende der Lohnverteilung, etwa in Gastronomie, Einzelhandel, Kinderbetreuung und Pflege.« Fänden diese Niedriglohnempfänger*innen keine bezahlbaren Wohnungen, komme es zu Arbeitskräftemangel. Bemerkbar macht sich damit der Widerspruch, dass die niedrigen Löhne der Leute nicht nur die Renditeanforderungen ihrer Arbeitgeber*innen befriedigen sollen, sondern auch die der Grundeigentümer*innen.
Die Politik reagiert darauf teilweise mit Mietbeschränkungen. Diese nützen aber vor allem den Bestandsmieter*innen – bei Neuvermietungen haben Grundeigentümer*innen mehr Freiheit der Preisgestaltung. Ergebnis: Die Angebotsmieten in den großen deutschen Städten liegen laut Ifo inzwischen fast 50 Prozent über den Bestandsmieten. Das führt dazu, dass Menschen in ihren Wohnungen bleiben, weil sie sich eine neue Wohnung schlicht nicht leisten können. Durch diesen Lock-in-Effekt »haben Nachzügler kaum Chancen, bezahlbaren Wohnraum zu finden«, so das Institut. Dies behindere »die räumliche Allokation von Arbeitskräften«, sprich: Die Leute können es sich nicht leisten, dort zu leben, wo sie arbeiten und »ihre Produktivität am besten entfalten können«, erklären die Ökonomen. So gerät der Kapitalismus regelmäßig an seine selbst produzierte Grenze: die Armut der Lohnabhängigen.
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