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Im Wettlauf gegen die Zeit
Israelische Regierung droht mit Wiederaufnahme der Kampfhandlungen
Während Diplomaten aus Katar, Ägypten und der Türkei mit Vertretern Israels und der Hamas über die zweite Phase von Trumps Friedensplan verhandeln, drohte Verteidigungsminister Israel Katz am Dienstag, die Armee könne eine neue Offensive starten. Auch US-Präsident Donald Trump warnte am Freitag, sollte die Hamas nicht zügig alle toten Geiseln übergeben, dann werde sie vernichtet.
Mitarbeiter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes konnten bisher erst 8 von 28 Leichen der am 7. Oktober entführten und später ermordeten oder bei Luftangriffen tödlich verletzten Israelis in Empfang nehmen. Die Hamas hatte in der letzten Woche bereits angekündigt, dass viele der toten Geiseln unter den Trümmern von Gaza-Stadt und Khan Junis liegen und ohne schweres Räumgerät nicht zu erreichen sind. Bagger und ähnliche Maschinen werden auch für die Suche von zehntausenden Palästinensern benötigt, die ebenfalls in den Trümmern des Gazastreifens vermutet werden. Doch israelische Behörden lassen diese ebenso wie den Großteil der humanitären Hilfe noch nicht durch.
Verteidigungsminister Katz hat angeblich Beweise, dass die Hamas bewusst einige der Leichen zurückhält. Ägyptische und türkische Experten sollten bereits seit Montag bei der Suche nach den toten Geiseln helfen. Doch ihr Einsatz verzögert sich wie viele der 20 Punkte des Trump-Plans, da dieser bisher eher eine Absichtserklärung und kein detaillierter Friedensplan ist.
»Ich glaube zwar nicht, dass sich Netanjahu einen neuen Krieg leisten kann«, sagt Ori Goldberg, ein politischer Analyst aus Haifa, »doch ohne internationalen Druck und der Stationierung von internationalen Experten und Soldaten werden seine radikalen Koalitionspartner den Konflikt mithilfe kleiner Provokationen weiterführen. Sie wollen weiterhin die ethnische Säuberung des Gazastreifens von Palästinensern.«
»Eins weiß ich: Ohne internationale Hilfe werden wir die kommenden Monate kaum überstehen.«
Nur Schawa 24-jährige Rückkehrerin nach Gaza-Stadt
Wie brüchig das Abkommen ist, zeigt die Weigerung der israelischen Regierung, den Grenzübergang Rafah nach Ägypten vollständig für humanitäre Hilfe zu öffnen. Die israelische Armee ließe nur 300 statt 600 Lastwagen pro Tag passieren, sagt Philippe Lazzarini, der Leiter von UNWRA, dem für palästinensische Flüchtlinge zuständigen Hilfswerks der Vereinten Nationen. Lazzarini schätzt, dass die Vorräte der Lagerhäuser in Ägypten und Jordanien ausreichten, um die Bevölkerung des Gazastreifens drei Monate zu ernähren. Humanitäre Hilfe als politisches Druckmittel einzusetzen, sei nach internationalem Recht verboten.
12 000 Mitarbeiter stehen auf der Lohnliste von UNWRA, doch die israelischen Behörden wollen ihre Blockade der Organisation aufrechterhalten.
Als Rechtfertigung dient der Vorwurf, einzelne mittlerweile entlassene UNWRA-Mitarbeiter hätten der Hamas angehört oder am Angriff des 7. Oktobers teilgenommen. Doch der Hauptgrund der Verunglimpfung von UNWRA ist ein anderer. Der Flüchtlingsstatus, den die von den Vereinten Nationen betreuten Palästinenser innehaben, ist den Hardlinern in Netanjahus Koalition ein Dorn im Auge. Finanzminister Bezalel Smotrich hat auch die im Westjordanland liegende Flüchtlingslager von Dschenin und Tulkarem in diesem Jahr räumen lassen. »Geht nach Jordanien«, schickten die Soldaten den fliehenden palästinensischen Familien hinterher.
Hind Khudary, eine für verschiedene Medien berichtende palästinensische Journalistin, zählte am Donnerstag am Grenzübergang Al-Qarara 100 Lastwagen, die nach stundenlangen Inspektionen durch die israelische Armee durchgelassen worden seien. »Die Vorräte der Verteilzentren in Gaza sind wieder auf ein Minimum gesunken«, sagt die Palästinenserin. »Die ersten Rückkehrer denken daran, den Gazastreifen zu verlassen.«
In Talkshows des israelischen Fernsehens fordern zahlreiche Politiker von Netanjahus Regierungskoalition auch in der letzten Woche genau das: die Ausreise möglichst vieler Palästinenser aus dem Gazastreifen. »Der Kampf ist noch nicht vorüber«, warnte Benjamin Netanjahu am Donnerstag in einer Rede am Militärfriedhof am Berg Herzl. »Wir sind fest entschlossen einen Sieg einzufahren, der die Region für viele Jahre prägen wird.«
Netanjahus Äußerungen an das heimische Publikum machen deutlich, dass noch völlig offen ist, welche Dynamik Trumps Plan in Gang setzen wird. »Die Selbstverwaltung der sieben Millionen Palästinenser oder gar einen eigenen Staat auf jeden Fall nicht«, sagt Mustafa Marguti, ein in Ramallah bekannter Menschenrechtsaktivist. »Damit besteht der Hauptgrund für den Konflikt weiter.«
Der 24-jährigen Nur Schawa, die am Montag mit ihrer Familie nach Gaza-Stadt zurückgekehrt ist, sind politische Fragen eigentlich egal. Zusammen mit ihren Brüdern macht sie das Zelt der Familie winterfest. »Dich eins weiß ich: Ohne internationale Hilfe werden wir die kommenden Monate kaum überstehen.« Erstmals seit über einem Jahr habe sie ein Brot von einer Bäckerei ergattern können, sagt sie dem »nd« am Telefon mit zitternder Stimme.
Auf den Straßen im Zentrum von Gaza-Stadt patrouillieren wieder bewaffnete und vermummte Hamas Kämpfer. Die israelischen Bomben haben hier zwar 90 Prozent der Schulen, Universitäten und Wohngebäude zerstört, die Kommandostruktur der Hamas scheint jedoch noch intakt wie vor dem 7. Oktober zu sein.
»Die Hamas kann man nicht mit Waffen zerstören«, hatte Emmanuel Macron in Scharm El-Scheikh gewarnt. »Eine Perspektive für die Bevölkerung ist der bessere Weg.«
Doch in Gaza kommt zu der Enttäuschung über die verzögerte Umsetzung des 20-Punkte-Plans nun auch noch der Schock über den Zustand von 45 verstorbenen Gefangenen, die am Montag vom Roten Kreuz übergeben worden waren.
Die Palästinenser waren von der israelischen Armee verhaftet und in die Haftanstalt Ketziot gebracht worden. »Die Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden und weisen zahlreiche Folterspuren auf«, berichtet ein Arzt der Al-Nasr-Klinik. Die Leichen wurden von den israelischen Behörden ohne Namen oder sonstige Angaben abgeliefert.
Der palästinensische Arzt will anonym bleiben. Über die Spuren der Gewalt zeigt er sichtlich geschockt: »Die toten Geiseln und Gefangenen werden einen neuen Kreislauf der Gewalt entfachen, wenn dieses Friedens-Abkommen nicht schnell und effektiv umgesetzt wird.«
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