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»Haus zur Sonne«: Der Traum vom Sterben
Im Suizid-Sanatorium: »Haus zur Sonne«, der neue Roman von Thomas Melle
Die ganze Welt war weg. Es wurde alles weggezerrt. Ein Erdbeben hätte nicht zerstörerischer sein können. Nur war dieses Beben anders: Es ereignete sich ausschließlich in mir, und die Zerstörung, so allumfassend sie um sich griff, geschah im Stillen.
Diese Beschreibung eines Krankheitszustands stammt von Thomas Melle, formuliert in seinem autobiografischen Buch »Die Welt im Rücken«, das vor neun Jahren erschien und einiges Aufsehen erregte. Es ist eine literarische Verarbeitung der schweren bipolaren Störung, unter der Melle seit vielen Jahren leidet. In seinem Bericht, der der Form eines Romans nachempfunden ist (aber nicht die Genrebezeichnung »Roman« trägt), erzählte der Schriftsteller, zuweilen erstaunlich detailliert, wie eine manisch-depressive Erkrankung und deren Folgen sein Leben verändert und zu erheblichen Teilen ruiniert haben. Am Ende des Buches heißt es: »Ich mag mich wieder umbringen wollen, irgendwann. Dann werde ich dennoch weiterleben.«
Welche Träume und Wünsche will man ausleben, an welchen Vergnügungen will man teilnehmen, wenn der größte Wunsch der ist, »Ruhe im Kopf« zu haben?
Der namenlose Protagonist – auch er ist manisch-depressiv, auch er ist Schriftsteller – in Thomas Melles neuestem Roman »Haus zur Sonne« hat sich hingegen endgültig entschieden, sein Leben zu beenden. Die Krankheit, die exzessiv in ihm gewütet hat, hat ihn vollständig zerrüttet. »Ich war nun kein Schriftsteller mehr, sondern bloßer Patient, dem alles wieder um die Ohren geflogen war.«
Die »totale Schwärze« herrscht in seinem Dasein. Und sie hat nichts übrig gelassen, um dessentwillen es sich weiterzuleben lohnte: »Der Lebensfunke war erloschen. Ich war Asche. Ich war Asche, ich war unheilbar krank, und ich könnte nur durch meinen Tod geheilt werden.« In seinem Alltag wechseln sich Zustände der Angst, der Panik, der Langeweile und der Verzweiflung ab. »Jede Sekunde ein weiteres Elend für immer. Kein Ausweg, nichts, nirgends.«
Doch dann gerät dem Ich-Erzähler eines Tages ein Flyer in die Finger, auf dem für ein vom Bundeswirtschaftsministerium finanziertes neuartiges »Pilotprojekt« geworben wird, das vielversprechend klingt: Es soll der »Lebensverbesserung, Traumverwirklichung, Selbstabschaffung« dienen. Rasch stellt sich heraus, was sich dahinter verbirgt. Es handelt sich um eine Art Sanatorium, das weitab der großen Städte und inmitten schöner Naturlandschaft gelegene »Haus zur Sonne«, in dem die lebensmüden Insassen ein paar letzte, möglichst glückliche Wochen verbringen sollen, bevor sie schließlich eingeschläfert werden: eine Selbstmordklinik mit Euthanasieprogramm also, in der die zum Sterben fest entschlossenen Patienten, die sich ihr freiwillig überantwortet haben, ihre letzte sorglose Lebensphase genießen sollen.
Das Interesse des Ich-Erzählers ist geweckt: »Ich wusste, ja, das würde es sein. Ich würde kein Penner werden, kein Sozialfall, kein herumgeschubstes Etwas, sondern ich würde ins Haus zur Sonne gehen und verschwinden.«
Dass das »Haus zur Sonne« von der Bundesregierung finanziert wird, darf man wohl als kleinen satirischen Kommentar Thomas Melles beziehungsweise als dezenten Hinweis auf die bevorstehende dystopische Zukunft verstehen: Je weniger »Sozialfälle« – sprich: Alte, Kranke, Bedürftige, vom Kapitalismus Ausgemusterte – es gibt, desto weniger wird das in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten radikal reduzierte Sozialsystem »belastet«. Wer als vermeintlicher Minderleister oder Leistungsunfähiger dem Staat den Gefallen tut, rechtzeitig freiwillig aus dem Leben zu scheiden, sich also selbst erfolgreich abschafft, wird belohnt mit ein paar letzten angenehmen Wochen, in denen er sein verbliebenes Restleben entspannt vor sich hinträumen kann, so zumindest die Idee: ein bisschen Schwimmen in der Therme, Spaziergänge, »Pferdetherapie«, ein wenig Yoga. Ein kleiner Urlaub auf Staatskosten, bevor das selbst gewählte Lebensende eintritt.
Und dann gibt es da ja auch noch die angekündigte »Traumverwirklichung«, mit der von der Institution geworben wird. Dabei handelt es sich um ein modernes Simulationsprogramm: Die »Klienten« der Sterbeklinik dürfen sich – in den Wochen, bevor sie sterben – virtuelle Szenarien wünschen, in welche sie dann mittels Computertechnologie und Drogen versetzt werden: einen Rausch haben, ohne einen Kater zu bekommen; den Tag am Meer, wie man ihn in der Kindheit mit den Eltern erlebte, ein zweites Mal verbringen; an einer wilden Sexorgie teilnehmen; oder irgendeine andere Fantasie wahr machen, die auszuleben man sich bislang nicht gestattete.
Melles Protagonist zieht also dort ein. Er bekommt ein Appartement zugewiesen, das ihn mehr als zufriedenstellt: »Es war funktional, schlicht, altmodisch und sauber, mithin das Gegenteil meines Lebens. Hier könnte ich bleiben.« Andererseits: Welche Träume und Wünsche will man ausleben, an welchen Vergnügungen will man teilnehmen, wenn der größte Wunsch der ist, »Ruhe im Kopf« zu haben, die eigene Identität (oder das, was davon noch übrig ist) auszulöschen, in einem schwarzen Loch endgültig zu verschwinden?
Thomas Melles Roman handelt nicht nur vom beschädigten Leben eines einzigen Menschen und dessen Wunsch, dass sein Schmerz enden möge. Er handelt natürlich auch von der Unmöglichkeit gelingenden Lebens insgesamt und von einer Gesellschaft, in der der Gedanke an die Entsorgung der Überflüssigen und vermeintlich Unproduktiven in nicht allzu weiter Ferne liegt. Die »Menschen ohne Zukunft«, denen Melles Ich-Erzähler im Suizid-Sanatorium begegnet, unterscheiden sich am Ende nicht so sehr von den Menschen ohne Zukunft unserer Gegenwart.
Thomas Melle: Haus zur Sonne. Kiepenheuer & Witsch, 320 S., geb., 24 €.
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