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Ecuador: »Proteste gelten als Angriff auf nationale Sicherheit«
Nayra Chalán über den Abbau der Demokratie in Ecuador
31 Tage lang hat die ecuadorianische Bevölkerung, angeführt vom indigenen Dachverband CONAIE, gegen die Austeritätspolitik der Regierung protestiert. Im Vergleich zu vorherigen Jahren scheint die Unterdrückung unter dem Präsidenten Daniel Noboa eine neue Eskalationsstufe erreicht zu haben. Wie erklären Sie sich das?
Daniel Noboa regiert nicht alleine. Er hat ein Team hinter sich, das seine Macht aktiv mitgestaltet. Im Januar 2024 rief die Regierung in Ecuador per Dekret einen internen bewaffneten Konflikt aus. Dieses Dekret ermöglicht es, dass bestimmte Ziele neutralisiert werden können, darunter nicht staatliche kriegführende Gruppen. Zu dieser Kategorie gehören auch Stammesgruppen, die von internationalen Organisationen als indigene Gemeinschaften anerkannt werden. Es kommt also zu einem Prozess der Verflechtung, der aber im Verborgenen bleibt, denn nicht alle Menschen lesen diese Gesetzestexte. Diese Ausrufung des internen bewaffneten Konflikts ermöglicht es der Regierung, alle notwendigen Ressourcen für das Militär und die Polizei bereitzustellen. Unter diesen Bedingungen fanden die Proteste 2025 statt.
Was bedeutet das für die Menschen, die auf die Straße gehen?
Die Proteste forderten drei Todesopfer und die Sicherheitskräfte gingen mit einer Brutalität gegen die Bevölkerung vor, die sie nicht mal gegen das organisierte Verbrechen anwendet. Jeder, der die Sicherheit des Staates angreift, gilt als Terrorist und die Proteste gelten als Angriff auf die nationale Sicherheit. Das Narrativ des Terrorismus wurde dieses Mal sehr hervorgehoben, Genossen werden unter dem Vorwurf des Terrorismus angeklagt. Gegen keine dieser Personen wurden ausreichende Beweise vorgelegt. Ich selbst werde wegen »unzulässiger Bereicherung« angeklagt. Meine Konten wurden ohne Begründung gesperrt, inzwischen wurden sie wieder freigegeben. Dabei handelt es sich um eine Strategie, um Aktivisten und soziale Organisationen, die sich der Regierung entgegenstellen, auszuschalten. Das ist äußerst besorgniserregend.
Nayra Chalán ist die ehemalige Vize-Präsidentin des indigenen Verbandes ECUARANI. 
Wie wirkt sich das von der Regierung verbreitete Narrativ, die Protestierenden seien Terroristen auf die Stimmung in der Bevölkerung aus?
Ecuador befindet sich in einer Krise. Nicht nur in einer Sicherheitskrise, sondern auch in einer psychologischen Krise. Ausgehend von einem Gefühl der Unsicherheit und der Vernachlässigung. Niemand traut niemandem – nicht mal seinem eigenen Nachbarn. Das ist essenziell, weil so jeder wegen irgendetwas beschuldigt werden kann. Nach dem Motto »Irgendwas wird er schon gemacht haben«. Das reicht dann aus, um jemanden zu kriminalisieren, zu verfolgen, zu ermorden.
Trotz der massiven Bestrebungen der Regierung, die Proteste so früh wie möglich zu unterdrücken und zu kriminalisieren, dauerten die Streiks 31 Tage.
Die Proteste haben vor allem die Kraft der Gemeinden in der Provinz Imbabura gezeigt. Sie haben bewiesen, dass sie die Streiks 31 Tage lang aufrechterhalten können. Und das mit dem gesamten Staatsapparat im Rücken. Das heißt, wenn sich das zu einem anderen Zeitpunkt auf nationaler Ebene mit den 15 000 indigenen Gemeinschaften Ecuadors wiederholen würde, könnte das Land ganz einfach lahmgelegt werden – und es würde keine 31 Tage dauern, bis ein Regierungschef seinen Beschluss zurücknimmt. Das ist der Regierung klar und sie bereitet sich mit Sicherheit auf diese Möglichkeit vor.
In einer Volksabstimmung am 16. November soll die Bevölkerung Ecuadors unter anderem darüber abstimmen, ob sie mit der Beauftragung einer Verfassunggebenden Versammlung einverstanden sind. Was würde eine neue Verfassung für das Land bedeuten?
2020 wurde ein aus mehreren Sub-Projekten bestehender Tagebau in Betrieb genommen. Alle anderen Projekte wurden durch verfassungsrechtliche Sperren blockiert. Die Verfassung schreibt das Recht der indigenen Völker und Nationalitäten auf eine vorherige freie und informierte Konsultation vor. Außerdem sind die Rechte der Natur in der Verfassung verankert. Das alles hat die Bauprozesse verzögert. Und das will die Regierung nun ändern. Denn der Bergbau gehört aktuell zu den lukrativsten Geschäften für Ecuadors Staat. Die Regierung möchte diese verfassungsrechtlichen Hindernisse beseitigen, damit diese transnationalen Projekte endlich in Angriff genommen werden können. Projekte, an denen die Familie des Präsidenten selbst direkt beteiligt ist.
Was ist in der kommenden Zeit wichtig, damit sich soziale Bewegungen gegen die Angriffe auf die ecuadorianische Diktatur wehren können?
Die internationale Gemeinschaft muss ein wachsames Auge auf Ecuador haben, vor allem wegen der demokratischen Schwächung, mit der das Land konfrontiert ist. Und das ist doch offensichtlich, oder? Mit den Gerichtsverfahren, der Verfolgung und den Massakern, die in Gemeinden stattfinden, die ihre Gebiete gegen den Bergbau verteidigen. Der Bergbau ist für die Regierung die wichtigste Motivation, die Verfassung zu ändern.
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