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Kriminalisierung von Flucht: »Ich hatte keine Wahl«
Wie Griechenland Schutzsuchende systematisch als Straftäter behandelt
Neun Uhr morgens im kleinen Gerichtssaal auf der griechischen Insel Samos. Eine stark geschminkte Richterin leitet die Verhandlung, neben ihr sitzt die Staatsanwältin. An der weißen Wand hinter ihnen hängt ein schweres Holzkreuz mit dem Abbild Jesu. Das öffentliche Interesse ist ungewöhnlich groß: Zwischen den Besucher*innen stehen bewaffnete Polizisten. Vor der Richterin sitzt der Angeklagte – der 21-jährige Angui Nasir* aus dem westlichen Sudan. Er soll ein Boot mit anderen Geflüchteten über die Ägäis von der Türkei nach Griechenland gesteuert haben. Im Saal sind auch Dimitrios Choulis und Ioanna Begiazi von der Rechtshilfeorganisation HRLP (Human Rights Legal Project), die den jungen Mann verteidigen.
Beide erleben täglich, wie prekär die Situation für Menschen auf der Flucht ist – gefangen in einem Dickicht aus Migrationsgesetzen und konfrontiert mit einer konservativen griechischen Regierung, die immer schärfere Maßnahmen gegen Asylsuchende plant. Der griechische Staat wirft Nasir Beihilfe zur unerlaubten Einreise von Drittstaatsangehörigen vor – also Schleusung. Nach griechischem Recht gilt als Schleuser, wer anderen zur irregulären Einreise verhilft. Doch Angui Nasir ist kein Schleuser. Er steuerte das Boot aus Zwang oder aus Mangel an Alternativen. Nun droht ihm eine unverhältnismäßig hohe Strafe.
Flucht vor dem Militär
Kurz vor der Verhandlung hat sich Dimitrios Choulis mit Angui Nasir in dem kahlen, belebten Vorraum des Gerichts über dessen Flucht und den Ablauf des Prozesses unterhalten. Der Sudanese sitzt mit den Händen in Handschellen auf einem Holzstuhl und stützt die Ellbogen auf die Beine. Er ist sichtlich nervös, lässt den Blick immer wieder durch den Raum schweifen. Auf Englisch erzählt er Dimitrios Choulis, dass seine Eltern ihn vor drei Jahren aus dem Sudan weggeschickt hätten, als er ins Militär eingezogen werden sollte.
Viele junge Männer in seinem Alter seien geflohen, erklärt er: »Wer sich weigert zu kämpfen, wird erschossen. Wer hingegen kämpft, muss seine eigenen Leute töten.« Mit einem Studentenvisum gelang ihm die Flucht in die Türkei. Als sein Vater im Sudan ermordet wurde, musste seine Mutter nach Ägypten fliehen. Ohne die finanzielle Unterstützung seiner Eltern war das Geld knapp, das Studium nicht mehr finanzierbar, und eine Chance auf Asyl in der Türkei gab es nicht. »Ich musste die Türkei innerhalb eines Monats verlassen, sonst hätten sie mich zurück in den Sudan geschickt«, erzählt er.
Seine einzige Hoffnung auf Asyl sei Europa gewesen. Deshalb habe er einen Kontaktmann bezahlt, der ihn mit einem Schleuser zusammenbrachte. Obwohl er den vollen Preis für die Überfahrt nicht zahlen konnte, sollte er trotzdem zum Treffpunkt kommen. Dort stellte ihn der Schleuser vor die Wahl: Entweder er steuere das Boot – oder er könne nicht mitfahren. »Natürlich«, beteuert er, »hätte ich die günstige, legale und sichere Route mit der Fähre genommen, wenn ich gekonnt hätte. Aber für Menschen wie mich gibt es diese Option nicht.«
Panik auf dem Boot
Sie legten also ab, immer geradeaus Richtung Griechenland. Kurz vor Samos verschlechterte sich das Wetter, die Wellen wurden immer höher. Umdrehen wollte niemand. In der Türkei hatten sie alle keine Perspektive. »Dann ist Panik ausgebrochen, und einige sind vom Boot gesprungen. Ich habe versucht, sie zu retten, aber es ist mir nicht gelungen«, erzählt er und wippt nervös mit dem Bein. Immer wieder sagt er: »I had no choice (ich hatte keine Wahl).« Keiner der Mitfahrenden habe ihn später für das Unglück verantwortlich gemacht. Die griechische Küstenwache jedoch schon.
Angui Nasir ist einer von Tausenden Asylsuchenden, die in Griechenland inhaftiert und strafrechtlich verfolgt werden – anstatt Schutz zu erhalten. Wie viele genau in griechischen Gefängnissen auf ihren Prozess warten, ist unklar. Im Februar 2023 befanden sich über 2100 Personen in Haft, die der Schleusung beschuldigt wurden. Auf Anfragen zu aktuellen Zahlen reagiert die Regierung nicht.
Julia Winkler von der Initiative »De:criminalize«, die betroffene Migrant*innen in griechischen Gefängnissen unterstützt, bestätigt dies: »Da die Ankommenden oft direkt nach der Ankunft verhaftet werden, weiß niemand genau, wie viele Menschen wegen Schleusung in Untersuchungshaft sitzen. Die meisten haben auch keine Möglichkeit, jemanden zu kontaktieren.« Wegen der Isolation und des fehlenden Austauschs mit anderen Gefangenen oder Hilfsorganisationen kennen viele ihre Rechte nicht.
»Wer sich weigert zu kämpfen, wird erschossen. Wer hingegen kämpft, muss seine eigenen Leute töten.«
Angui Nasir
Im Gerichtssaal von Samos fasst die Richterin die Anklagepunkte auf Griechisch zusammen: Es geht um unerlaubte Einreise und Schleusung – juristisch: die unerlaubte Einreise von Drittstaatsangehörigen nach Artikel 29 des griechischen Migrationsgesetzes. Angui Nasir tritt vor die Richterin und beantwortet mithilfe eines Übersetzers ihre Fragen. Er macht seine Aussage deutlich: »Ich habe das Boot nicht auf die Felsen gesteuert – das Wetter war schuld, die Wellen waren hoch. Die Menschen gerieten in Panik und sprangen ins Meer. Ich habe mein Bestes gegeben, um uns in Sicherheit zu bringen. Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich versuchen, mehr Geld zu verdienen und als Passagier zu reisen.«
Der Blick der Richterin ruht lange auf dem 21-Jährigen vor ihr. Dann reicht Dimitrios Choulis ihr die Unterlagen zu dem Fall und beginnt mit der Verteidigung. Das Migrationsgesetz sei eindeutig: Die Mitgliedstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention hätten sich dazu verpflichtet, keine Strafen gegen Geflüchtete zu verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sei. Deshalb seien Asylsuchende vom Anwendungsbereich des Schleusungsgesetzes ausgenommen. Die Kriminalisierung von vermeintlichen Bootsführern, die selbst Asyl beantragen wollen, sei also rechtswidrig.
Abgesehen von Rechtshilfeorganisationen wie der HRLP erhalten viele angeklagte Geflüchtete keinen juristischen Beistand. Zugleich wird die Migrationspolitik in Griechenland immer restriktiver. David Werdermann, Rechtsanwalt und Verfahrenskoordinator der Gesellschaft für Freiheitsrechte, kritisiert die unübersichtliche Rechtslage: »EU-Richtlinien mit Mindeststandards treffen auf nationales Umsetzungsrecht – da wird es schwer, den Paragrafendschungel zu durchschauen.« Dazu kommen zahlreiche nachträgliche Gesetzesänderungen, die die Situation zusätzlich verkomplizieren. Diese Lücken eröffnen Spielräume für Missbrauch und erleichtern die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht. Selbst die Genfer Flüchtlingskonvention lässt beim Thema Fluchthilfe Raum für unterschiedliche Interpretationen.
Viele Betroffene verfügten nicht über die Ressourcen, um sich gegen Rechtsverstöße zu wehren. »Dadurch entstehen faktisch rechtsfreie Räume, in denen Menschenrechtsverletzungen möglich werden«, bemängelt Werdermann. »Eigentlich müsste die EU-Kommission gegen verschiedene Mitgliedstaaten vorgehen – doch das scheint derzeit nicht auf ihrer Agenda zu stehen.«
Abhängigkeit von Schleusern
Beim ausgerufenen »Kampf gegen Schleuser« gehe es nicht darum, Migration sicherer zu machen, davon ist Julia Winkler überzeugt: »Schleusung ist kein Umstand, der Migrant*innen gegen ihren Willen auferlegt wurde, aus dem sie ›gerettet‹ werden müssen, sondern eine notwendige Dienstleistung – mangels anderer Fluchtmöglichkeiten.« Durch dieses Vorgehen gegen Schleusung werde Flucht immer stärker kriminalisiert und Fluchtrouten würden immer tödlicher, was langfristig den Bedarf und die Abhängigkeit von Schleusern stärke.
Nach einer kurzen Pause im Gerichtssaal verkündet die Richterin das Urteil: Angui Nasir wird für das tödliche Unglück verantwortlich gemacht und schuldig gesprochen. Möglich ist dies, weil sein Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Es wurde, wie bei vielen anderen Betroffenen, während seiner Untersuchungshaft ausgesetzt. Ioanna Begiazi hält das für eine Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht. Nur wegen der Unterbrechung des Asylverfahrens sei es möglich, Geflüchtete zu verurteilen.
Angui Nasir bekommt sechs Jahre Haft für jedes Todesopfer und weitere drei Jahre für jede transportierte Person – insgesamt 58 Jahre. Das Urteil ist kaum nachvollziehbar und wirkt willkürlich. Dimitrios Choulis legt sofort Berufung ein. Die nächsthöhere juristische Instanz wird den Fall erneut prüfen. Ob Choulis damit Erfolg haben und das Urteil aufgehoben wird, ist unklar.
Bei Prozessen im Sommer wurden elf Migranten mit vergleichbaren Anklagen freigesprochen. Es war ein heißer Tag, an dem 34 Prozesse angesetzt waren. Ioanna Begiazi und Dimitrios Choulis vermuten, dass die Freisprüche deshalb erfolgten, weil wegen der Hitze niemand länger als nötig im Gericht bleiben wollte.
*Name zum Schutz der Person geändert
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