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Ukraine: Wieder Mal ein Korruptionsskandal
Untersuchungen richten sich auch gegen das Umfeld von Präsident Wolodymyr Selenskyj
Die Ukraine steht vor der Entdeckung und Aufdeckung eines der größten Korruptionsfälle der vergangenen Jahre. Am Dienstagmorgen standen Mitarbeiter des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine (Nabu) und der Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption bei Timur Minditsch vor der Tür. In der Wohnung fanden die Ermittler große Mengen Bargeld, nicht aber den Geschäftsmann Minditsch. Der enge Vertraute von Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde vorgewarnt und konnte, wie auch andere Verdächtige, die Ukraine wenige Stunden vor der Razzia verlassen, meldet die »Ukrajinska Prawda«, die als Erste über die Durchsuchungen berichtete.
Die Vorwürfe des Nabu sind gewaltig. Man habe die Tätigkeit einer »hochrangigen Verbrecherorganisation« aufgedeckt, die »ein weit verzweigtes Korruptionsnetzwerk zum Einfluss auf strategische Unternehmen des staatlichen Sektors« aufgebaut hätte, schreibt das Antikorruptionsbüro in einer Stellungnahme. Dies betreffe insbesondere den Atomkraftwerksbetreiber Energoatom.
Verdächtige sollen bei Aufträgen mitkassiert haben
Minditsch und die anderen Verdächtigen sollen sich dank ihrer Verbindungen im Regierungsapparat und den Unternehmen die Kontrolle über Personalentscheidungen, Beschaffungsprozesse und Finanzströme gesichert haben. Die Verdächtigen hätten die Rolle von »Aufsehern« übernommen und bei Verträgen die Hand aufgehalten, so der Vorwurf. Wer Zulieferer werden wollte, musste 10 bis 15 Prozent der Vertragssumme bezahlen, heißt es. Weigerte man sich, drohte die schwarze Liste, die Annullierung von Zulassungen oder gar die Einberufung der Mitarbeiter in die Armee.
»Wenn in der Ukraine bei jemandem Durchsuchungen stattfinden, heißt das nicht unbedingt, dass er auch angeklagt und verurteilt wird.«
Georgij Tschischow Politikwissenschaftler
Noch ist nicht ganz absehbar, welche Ausmaße die Ermittlungen annehmen werden, doch sie könnten gewaltig sein. Das Nabu habe einen Fall eröffnet, den es niemals abschließen können wird, heißt es in ukrainischen Medien, die bereits von den »Minditsch-Files« sprechen. Das Antikorruptionsbüro selbst spricht von einer »Sensation« und »tausenden Stunden Audiomaterial« mit »handfesten Beweisen«, die nun ausgewertet werden. Bereits am Dienstag veröffentlichte das Nabu erste Auszüge aus den Mitschnitten. Im politischen Kiew soll die Rede davon sein, dass die »Minditsch-Files« das ukrainische »Watergate« werden.
Selenskyj glaubt an eine amerikanische Spur
Selenskyj, so berichten es mehrere Medien, soll äußerst erbost über die Razzia sein und sogar die USA und die US-amerikanische Bundespolizei FBI hinter den Ermittlungen vermuten. Die Trump-Administration wolle auf diese Weise Druck auf den ukrainischen Präsidenten aufbauen, damit der einem Kriegsende zustimmt. Beweise dafür gibt es nicht.
Ebenso fraglich ist, ob sich Minditsch und die anderen Verdächtigen vor Gericht verantworten müssen. Die Auswertung des gesamten Materials könnte sich allerdings über Jahre hinziehen. Auch der Politikwissenschaftler Georgij Tschischow warnt: »Wenn in der Ukraine bei jemandem Durchsuchungen stattfinden, heißt das nicht unbedingt, dass er auch angeklagt und verurteilt wird«, so Tschischow beim Fernsehsender Doschd.
Es drohen neue Korruptionsenthüllungen
In den kommenden Tagen und Wochen könnte sich ein offener Schlagabtausch zwischen den unabhängigen Korruptionsermittlern und dem Staat entwickeln. Nur einige Stunden nach Bekanntwerden der Razzia erhob die Staatsanwaltschaft neue Vorwürfe gegen den hochrangigen Nabu-Mitarbeiter Ruslan Magamedrasulow, der angeblich mit Russlands Inlandsgeheimdienst FSB zusammenarbeiten soll.
Und dem Präsidentenbüro droht bereits der nächste große Ärger, wenn das Nabu Verfahren wegen der massiven Korruption bei den Waffeneinkäufen einleitet. Dass hier viel Geld in tiefen Taschen und schwarzen Kanälen versickert und die Ukraine sich damit selbst schadet, ist schon länger bekannt. Jetzt könnte das Nabu aber publik machen, wie Minditschs Firmen beim Kauf von Drohnen und Raketen, einem Bereich, in dem es um Hunderte Milliarden Hrywnja geht, Geld machten.
Im August hatte der Kyiv Independent öffentlich gemacht, dass Minditsch hinter der Firma Fire Point steckt, die die ukrainische Armee mit Drohnen versorgt. Das Nabu soll dem Bericht zufolge seit dem Frühjahr gegen Minditsch ermittelt haben, was dazu führte, dass Selenskyj die Korruptionsermittler ins Visier nahm. Erst nach Protesten der Straße und westlicher Unterstützerländer zog Selenskyj seinen Angriff gegen das Nabu zurück.
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