- Politik
- Diana Loginowa
Russland: Knastkarussell für Straßenmusiker
Nach Konzerten mit Liedern »ausländischer Agenten« sitzen mehrere junge Musiker in Haft
Nur selten kommt es vor, dass Straßenmusiker landesweit bekannt werden. Die Petersburger Band Stoptime, bestehend aus der Sängerin Diana Loginowa alias Naoko, dem Gitarristen Alexander Orlow und dem Schlagzeuger Wladislaw Leontjew, hat es – auf sehr »russische« Weise – geschafft.
Am 11. Oktober spielte die Band vor einer Metrostation auf dem Newskij-Prospekt ein Straßenkonzert mit eigenen Liedern und bekannten Pop-Hits. Videos davon verbreiteten sich anschließend im Netz und riefen die Behörden auf den Plan. All das, weil die 18-jährige Loginowa Lieder »ausländischer Agenten« wie von Noize MC, Monetotschka, Zemfira oder der ukrainischen Band »Boombox« sang und die Umstehenden nicht vor den staatszersetzenden Folgen warnte.
Erste Verhaftung im August
So macht Noize MC in seinen Texten, die das Publikum auswendig mitsang, Andeutungen an eine Datschen-Genossenschaft, die Präsident Wladimir Putin 1996 mit seinen engsten Vertrauten und späteren Ministern gründete. Und er stellt die Frage: »Wo wart ihr die letzten acht Jahre?«, mit der im Februar 2022 Kriegsgegner von der Propaganda konfrontiert wurden. Noize MC zieht auch Vergleiche mit dem Ende der Sowjetunion und wünscht sich, dass der »Opa im Bunker« (gemeint ist Putin) Angst bekommt.
Stoptime war das dünne Eis, auf dem sie sich bewegen, sehr wohl bekannt. Bereits Ende August, nur wenige Wochen nach der Gründung, wurden die Musiker wegen Ruhestörung verhaftet. Anschließend wurden sie, auch dank sozialer Medien, immer beliebter. Dutzende kamen zu den spontan angekündigten Auftritten.
Z-Fraktion empört sich
Der Auftritt am 11. Oktober war für viele Linientreue schließlich zu viel. Viele »Z-Kanäle« auf Telegram empörten sich und ein Duma-Abgeordneter der Regierungspartei Einiges Russland forderte die Eröffnung eines Strafverfahrens.
Am 15. Oktober wurde Loginowa festgenommen und tags darauf wegen einer nicht angemeldeten Veranstaltung zu 13 Tagen Administrativhaft verurteilt. Orlow und Leontjew, zunächst als Zeugen vorgeladen, bekamen 13 und zwölf Tage. Die Bilder der zierlichen Loginowa in Handschellen auf dem Weg in den Gerichtssaal machten schnell die Runde und führten zu Solidaritätsbekundungen von Oppositionellen und Künstlern weltweit. Vor dem Gericht in St. Petersburg versammelte sich eine Menschenmenge, im Internet forderten über 40 000 Menschen die Freilassung Loginowas.
»Karussell«
Doch einen Monat später ist Loginowa noch immer in Haft. Oder besser gesagt erneut. Mit der »Karussel«-Methode wird die Sängerin, wie auch die anderen Bandmitglieder, immer wieder direkt nach der Entlassung aus dem Gefängnis erneut verhaftet, zuletzt am 11. November. Mal geht es um »Diskreditierung der Armee«, »Störung der öffentlichen Ordnung«, »Organisierung von Massenveranstaltungen« oder das Verbreiten von Schimpfwörtern in den Liedtexten. Es geht nun um den Inhalt jedes einzelnen Liedes. Für die Behörden gibt es damit mehr als genug Gründe für weitere Haftstrafen. Einzig Schlagzeuger Leontjew ist mittlerweile wieder frei.
Die anhaltenden Prozesse dürften für Stoptime als Band das Ende bedeuten. Dafür wächst der Heldenstatus von Gruppe und Sängerin Loginowa. Aktionen, wie der Heiratsantrag Orlows an Loginowa noch im Gefangenentransporter (den sie natürlich annahm) sind ein Teil des Bildes eines hellen Momentes in dunklen Zeiten.
Solidarität in anderen russischen Städten
Neben Aktionen im Ausland solidarisierten sich in Russland selbst in mehreren Städten Straßenmusiker mit den Petersburgern. In vielen Orten lässt die Polizei die Musiker noch gewähren. In den Ural-Millionenstädten Perm und Jekaterinburg folgten auf die Konzerte Verhaftungen, teilweise auch hier mit »Karussell«.
Die Behörden verteidigen ihr Vorgehen gegen die jungen Menschen mit dem Verweis auf die öffentliche Ordnung. Staatsnahe Akteure sprechen von »gezielten Provokationen« gegen Armee und Staat. Die Musikschule, in der Loginowa einst lernte, entfernte ihr Foto von der Ehrenwand.
Oppositionelle Journalisten glauben in der harten Reaktion des Staates Angst vor Zivilgesellschaft und Antikriegsstimmung unter den Jugendlichen zu erkennen. Der Historiker Alexander Stefanow, selbst »ausländischer Agent«, weist indes auf ein banaleres Zusammenwirken von Aktion und Solidarität hin. Jegliche öffentliche Unterstützung, so Schtefanow auf seinem Youtube-Kanal, kann im heutigen Russland zu einer verschärften Verfolgung führen. Ein Lob oppositioneller Medien führt ebenso zu einer verstärkten Aufmerksamkeit seitens der Behörden wie öffentliche Solidarität zu härteren Strafen führt.
Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser*innen und Autor*innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.