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Bulgarien ließ minderjährige Migranten erfrieren
Frontex-Bericht sieht Schuld bei Grenztruppen – die leugnen das Offensichtliche
Drei minderjährige Migranten sind Ende Dezember 2024 an der EU-Außengrenze zwischen Bulgarien und der Türkei erfroren. Darüber hatte bereits die unabhängige Hilfsorganisation No Name Kitchen in einer Dokumentation unter dem Titel »Erfrorene Leben« berichtet. Nun gibt es zu dem Tod kurz nach Weihnachten neue Details: Laut einem internen Bericht der EU-Grenzagentur Frontex haben bulgarische Behörden nicht nur versagt, die Jugendlichen zu retten, sondern sogar Hilfsversuche von Organisationen im Grenzgebiet aktiv behindert.
Den »Final Serious Incident Report«, erstellt vom Grundrechtebüro der Agentur, hat Frontex selbst online gestellt – vermutlich nachdem dieser mit einer Informationsfreiheitsanfrage herausverlangt wurde. Der Bericht datiert vom 31. Juli 2025 und kommt zu dem Ergebnis, dass die bulgarischen Grenzbeamten ihre Verpflichtungen verletzt und damit das Grundrecht auf Leben missachtet haben.
In der Nacht zum 28. Dezember 2024 hatten Rettungsteams von No Name Kitchen und der NGO Collettivo Rotte Balcaniche mehrere Hilferufe von Jugendlichen ägyptischer Staatsangehörigkeit im Alter von 15, 16 und 17 Jahren erhalten. Diese übermittelten ihre genauen GPS-Koordinaten und machten deutlich, dass sie wegen Unterkühlung in akuter Lebensgefahr schwebten. Die Organisationen leiteten diese Notrufe, die laut dem Frontex-Bericht ein »unmittelbares Todesrisiko« anzeigten, sechsmal an bulgarische Rettungsdienste weiter.
Das Grundrechtebüro hält es in seinem Bericht »für erwiesen, dass die Behörden verpflichtet gewesen wären, den Migranten zu helfen und sie zu retten«. Sie hätten dazu über ausreichende Informationen verfügt und auch den Standort der Jugendlichen gekannt. Die bulgarischen Grenztruppen wiesen die Vorwürfe in ihrer Stellungnahme zu dem Frontex-Bericht zurück und behaupteten, die erhaltenen Koordinaten hätten »falsche oder irreführende Informationen« enthalten. Auch seien die Leichen der drei Jugendlichen später an anderen Orten gefunden worden.
Allerdings lagen zwei der Leichen nur acht beziehungsweise 22 Meter von den gemeldeten Positionen entfernt, erklärt Frontex dazu. Das belegten auch Videos der Jugendlichen, die den bulgarischen Behörden mit den ersten beiden Notrufen der NGOs übermittelt wurden. Ein Video zum ersten Notruf zeige demnach eine Person, die auf dem Rücken im Schnee liege, den linken Arm erhoben habe und von der ein deutliches Stöhnen zu hören sei.
Bulgariens Grenztruppen sollen Rettungsversuche unabhängiger Stellen zudem behindert haben: Die NGOs dokumentierten insgesamt fünf Versuche ihrer Teams, die in Not geratenen Jugendlichen zu erreichen. Dabei seien sie wiederholt von bulgarischen Grenzpolizeifahrzeugen gestoppt und ihre Papiere kontrolliert worden, sie seien von den Einsatzorten weggeschickt und dabei sogar eskortiert worden. Auch ein zu Fuß marschierendes Rettungsteam sei angehalten und angewiesen worden, zehn Kilometer zum nächstgelegenen Ort zu laufen. Diese Verzögerungen hätten dazu geführt, dass die Erfrierenden erst nach 25 beziehungsweise 60 Stunden erreicht werden konnten.
Da es sich bei den Verstorbenen um Minderjährige handelte, kritisiert der Frontex-Bericht zudem eine Verletzung der Kinderrechte. Das Versäumnis, sie zu retten, wird allerdings nicht als Vorsatz, sondern als »grobe Fahrlässigkeit« eingestuft. Jedoch mit System: Das Grundrechtebüro verweist auf wiederholte ähnliche Vorwürfe, wonach die bulgarischen Behörden »nicht angemessen auf Notrufe reagieren«.
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In einem weiteren aktuellen »Serious Incident Report« berichtet Frontex über einen Vorfall, bei dem acht Migrant*innen am 22. Januar 2025 nach einem Grenzübertritt von Maskierten in dunklen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen in Bulgarien aufgegriffen und nach Griechenland zurückgeschoben worden seien. Die Personen wurden demnach körperlich durchsucht, ihre Handys und Habseligkeiten konfisziert, anschließend wurden sie in den Kofferraum eines Geländewagens mit der Aufschrift »Polizei« gezwungen. Nach einer etwa 15-minütigen Fahrt seien die acht Menschen an einem unbekannten Ort ausgesetzt und angewiesen worden, in eine bestimmte Richtung – nach Griechenland – zu laufen, wo sie wenig später von der dortigen Polizei festgenommen wurden.
Die Behörden in Griechenland stützten die Aussagen der Migrant*innen. Nach deren Angaben habe die griechische Polizei auch ein Rückübernahmegesuch an Bulgarien gestellt – das jedoch mit der Begründung abgelehnt worden sei, die Anwesenheit der Gruppe auf bulgarischem Territorium sei nicht belegt. Aus diesem Grund könne das Frontex-Grundrechtebüro den Vorfall letztlich nicht unabhängig verifizieren. Die Vorwürfe eines kollektiven Pushbacks und von Eigentumsverletzungen wurden deshalb als »unklar« eingestuft.
Überraschend zahm kommen die Empfehlungen von Frontex zur Behebung der systematischen Menschenrechtsverletzungen daher: Die bulgarischen Behörden sollten ihre Zusammenarbeit mit der EU-Grenzagentur intensivieren, so der Bericht zu den tödlichen Erfrierungen. Auch sollte der Staat »robuste und gewissenhafte Untersuchungen« aller Berichte zu gescheiterten Rettungseinsätzen einleiten. An Frontex selbst gerichtet ist die Empfehlung, in Gebieten mit »hohem Migrationsdruck« und gemeldeten Grundrechtsverletzungen aktiver zu werden. Der zweite Bericht fordert lediglich – ohne den konkreten Fall zu nennen – wirksame Untersuchungen durch Bulgarien.
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