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Gericht erklärt Massen-Scan von E-Mails für illegal
Schweizer Geheimdienst überwacht täglich Millionen Nachrichten – ohne Anlass
Das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen hat in einem 211 Seiten umfassenden Entscheid festgestellt, dass die sogenannte Funk- und Kabelaufklärung des Nachrichtendienstes des Bundes gegen die Schweizer Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Die Richter*innen kritisieren schwerwiegende Mängel bei der massenhaften Erfassung von E-Mails, Text- und Sprachnachrichten. Das Urteil datiert auf den 19. November – die Digitale Gesellschaft Schweiz war die Klägerin und hat es nun öffentlich gemacht.
Der Geheimdienst und das »Kommando Cyber« der Armee überwachen seit 2017 systematisch die digitale Kommunikation, die über die Landesgrenze verläuft – offiziell mit der Begründung, Vorgänge im Ausland verfolgen zu wollen. Die Telekommunikationsanbieter gewähren den Behörden dafür Zugang zu ihren Schnittstellen, wo sie die Datenströme nach IP-Adressen, Telefonnummern oder Schlüsselwörtern durchsuchen können. Ein ähnliches Verfahren praktiziert der Bundesnachrichtendienst in Deutschland, das wurde nach den Enthüllungen von Edward Snowden vor über einem Jahrzehnt bekannt.
Das Schweizer Gericht stellte nun fest, dass mit »hinreichender Wahrscheinlichkeit« auch inländische Kommunikation beim Abhören der Auslandsschnittstellen erfasst wird. Denn auch Kommunikation zwischen Schweizer Bürger*innen läuft häufig über ausländische Server und wird somit überwachbar. Eine zuverlässige Aussortierung inländischer Personen oder Verkehre aus den abgefangenen Datenströmen sei technisch kaum möglich.
Das Urteil bemängelt außerdem fehlende Schutzmechanismen: Es gebe keinen ausreichenden Schutz vor Missbrauch, keine Garantie, dass nur erhebliche und korrekte Daten verarbeitet werden, und keine Vorkehrungen zum Schutz journalistischer Quellen oder der Kommunikation zwischen Anwält*innen und Mandant*innen. Zudem fehle eine effektive Aufsicht. Auch hätten Betroffene kein wirksames Rechtsmittel zur nachträglichen Überprüfung.
Geklagt hatten mit dem Verein Digitale Gesellschaft insgesamt sechs Aktivist*innen, Journalist*innen und ein Rechtsanwalt. Unter ihnen sind Marcel Bosonnet, der Anwalt des Whistleblowers Edward Snowden, sowie Andre Meister vom deutschen Magazin netzpolitik.org.
»Die Digitale Gesellschaft freut sich, dass das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis kommt, dass die Funk- und Kabelaufklärung die Grundrechte verletzt«, sagte Erik Schönenberger, Ko-Geschäftsleiter des Vereins. Die Organisation fordert die sofortige Einstellung der Kabelaufklärung, da sich die festgestellten Mängel nicht beheben ließen.
Obwohl das Gericht die Praxis für illegal erklärt, gewährt es dem Geheimdienst und der Politik eine fünfjährige Frist zur Behebung der gesetzlichen Mängel. Derzeit läuft ohnehin eine Revision des Nachrichtendienstgesetzes. Die Behörde selbst teilte mit, sie werde das Urteil gründlich prüfen. Ob Beschwerde eingelegt wird, ist noch offen.
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