Linke will in Berlin Mietnotstand ausrufen

Neue Studie belegt »manifeste Defizite« bei Wohnraumversorgung in der Hauptstadt

Wenn nur noch eine Couch bleibt: Mindestens 54 000 Menschen in Berlin sind wohnungslos.
Wenn nur noch eine Couch bleibt: Mindestens 54 000 Menschen in Berlin sind wohnungslos.

Ob es um die Situation von Mieter*innen in Berlin schlecht bestellt ist, ist keine strittige Frage mehr. Aber wie schlecht die Situation ist und was mögliche Lösungsansätze sind, das ist nicht geklärt. Die Linke macht sich nun dafür stark, in Berlin einen »Mietnotstand« auszurufen, auch um ihr geplantes »Sicher-Wohnen-Gesetz« auf sichere Füße zu stellen. Dafür hat sie eine Studie beim bekannten Stadtsoziologen Andrej Holm in Auftrag gegeben, die sie am Mittwoch im Abgeordnetenhaus vorstellte.

»Je angespannter sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt darstellt, desto eingriffsintensivere Maßnahmen lassen sich rechtfertigen«, führt Linke-Vizefraktionsvorsitzende Elif Eralp einleitend aus. Die Erkenntnisse aus der Studie seien ein weiterer Beleg dafür, dass in Berlin ein Mietennotstand herrsche, so Eralp. Diese Feststellung geht weiter als das, was bisher von der Verwaltung definiert wurde, nämlich dass in Berlin ein »angespannter Wohnungsmarkt« herrscht. Letzteres meint eine gefährdete Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum unter angemessenen Bedingungen. Damit wird etwa rechtlich begründet, dass die Mietpreisbremse in Berlin – zumindest theoretisch – Mieterhöhungen bei Neuvermietungen beschränkt. In Berlin gebe es aber nicht mehr nur eine Gefährdung, so Eralp. »Es bestehen manifeste Defizite bei der Wohnraumversorgung.«

Welche Defizite das sind, führt Studienautor Andrej Holm aus. Hintergrund der Studie sei, dass die von der Linken vorgeschlagenen Eingriffe über das Bisherige hinausgehen und deswegen eine andere Begründung benötigen, so der Stadtsoziologe. Die Bestandsmieten sind von 2010 bis 2022 um 35 Prozent, die Angebotsmieten um 158 Prozent gestiegen. »Die Lage sieht noch viel dramatischer aus als in vielen anderen Städten, in denen auch ein angespannter Wohnungsmarkt herrscht«, sagt Holm.

Ein überraschendes Ergebnis der Studie: »Die Unterdeckung des Baubedarfs ist gar nicht so riesig«, sagt Wissenschaftler Holm. Seit 2020 gibt es in Berlin mehr Wohnungen als Haushalte. Das liegt aber auch daran, dass der Anteil an Mehrpersonenhaushalten steigt. »Wir haben nicht nur ein Gesamtproblem in der Wohnungsversorgung, sondern auch ein Verteilungsproblem«, sagt Holm. Mehr als 100 000 Haushalte in der Stadt leben in überbelegten Wohnungen, also in Wohnungen, in denen mehr Personen leben, als es Zimmer gibt. Zugleich gibt es 190 000 Haushalte in unterbelegten Wohnungen, in denen es mindestens zwei Zimmer mehr als Bewohner*innen gibt. Dazu kommen mindestens 54 000 wohnungslose Personen.

Die Wohnungen, die es gibt, sind kaum zu bezahlen. Das zeigt sich auch in der Überschreitung der Leistbarkeitsgrenze. 26,9 Prozent der Berliner Haushalte geben mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für die Kaltmiete aus, weitere 12,5 Prozent verwenden sogar mehr als 40 Prozent. Wenn man die Warmmiete heranzieht, ist diese Zahl noch höher: Insgesamt 56 Prozent zahlen mehr, als leistbar ist.

In eine angemessene Wohnung, sowohl was die Größe als auch was die Miete betrifft, umzuziehen, ist aber nur schwer möglich. »Die zurzeit angebotenen Wohnungen, die man beziehen könnte, leisten keinen Beitrag für die soziale Wohnversorgung. In der Regel führt jeder Umzug zu einer Verteuerung des Wohnens«, führt Stadtforscher Holm aus. 75 Prozent der angebotenen Wohnungen sind im teuersten Preissegment. 45 Prozent liegen über 20 Euro pro Quadratmeter. Das sei ein Dauerzustand, so Holm.

Die hohen Mieten haben indirekt auch Folgen für den geplagten Landeshaushalt. Denn wenn Mieter*innen, die Transferleistungen beziehen, in Wohnungen wohnen, deren Miete über den Bemessungsgrenzen liegt, springt das Land Berlin ein. Das sorge für über 100 Millionen Euro Kosten pro Jahr, so Holm.

Eine mögliche Lösung wären Sozialwohnungen. Doch deren Anzahl schrumpft. Rund 100 000 gibt es noch in der Stadt. Demgegenüber stehen rund eine Million Haushalte, die wegen ihres Einkommens einen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein (WBS) hätten. Bei der Versorgung dieser Berechtigten mit Wohnraum spielen die landeseigenen Wohnungsunternehmen (LWU) eine immer größere Rolle. Obwohl sie nur 20 Prozent der Berliner Wohnungen halten, macht ihr Anteil an Neuvermietungen an WBS-Berechtigte 80 Prozent aus. »An der Versorgung von WBS-berechtigten Haushalten müssen alle Sektoren beteiligt werden«, sagt Holm.

Die Zahlen der Studie seien »schockierend«, sagt Niklas Schenker. »Wir müssen von einer Krise der sozialen Wohnraumversorgung sprechen.« Für den wohnungspolitischen Sprecher der Linkfraktion zeigt die Studie, dass die Lösungen der regierenden Parteien für die Situation nicht adäquat seien. Er kritisiert einerseits die Mieterhöhungen bei den LWU. Andererseits sei der Wohnungsneubau, wie er bisher geschehe, als Mittel zur Behebung der Situation nicht angemessen. Man müsse nicht irgendwelche Wohnungen, sondern bezahlbare Wohnungen bauen, so Schenker.

Um die Versorgung mit bezahlbaren Wohnungen zu verbessern, will die Linke mit ihrem Sicher-Wohnen-Gesetz auch private Vermieter ab einem Wohnungsbestand von 50 Wohnungen dazu verpflichten, günstigen Wohnraum zu vermieten. Damit sollen 17 000 bezahlbare Wohnungen pro Jahr geschaffen werden. »Damit werden all diejenigen, die diese Stadt hier tagtäglich am Laufen halten, wieder die Möglichkeit haben, eine Wohnung zu finden«, sagt Schenker.

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