Warnung vor Europas neuer Terror-Bedrohung

Online-Netzwerke treiben Minderjährige zu schweren Verbrechen – die EU schlägt Alarm

Pressekonferenz der Hamburger Polizei zu Ermittlungen wegen Verdachts auf vollendeten und versuchten Mord im Internet. Es ging um einen 20-Jährigen, der sich »White Tiger« nannte.
Pressekonferenz der Hamburger Polizei zu Ermittlungen wegen Verdachts auf vollendeten und versuchten Mord im Internet. Es ging um einen 20-Jährigen, der sich »White Tiger« nannte.

Im September 2024 ersticht ein 14-Jähriger in Stockholm einen Mann in seinen Achtzigern, filmt die Tat und verbreitet sie auf Telegram. Wenige Monate zuvor hatte er bereits eine Frau niedergestochen. Das Gericht kann ihn nicht bestrafen – er war zum Tatzeitpunkt noch keine 15 Jahre alt. Im Januar 2025 attackiert ein gleichaltriger Junge im schwedischen Borås eine 55-Jährige mit einem Messer. »Geh zurück und mach weiter«, kommentiert ein Zuschauer während der Live-Übertragung der Tat auf der Internet-Spiele-Plattform Discord. Im Februar verhaftet die italienische Polizei in Bozen einen 15-Jährigen, der Sprengkörper gebastelt, Waffen gehortet und einen Mord geplant hatte, um in seiner Online-Community Status zu erlangen. In Helsinki sticht im Mai ein 16-Jähriger auf drei Mitschülerinnen ein, filmt den Angriff mit Snapchat und erklärt in seinem »Manifest«, er habe etwas »Bedeutendes« und »Aufregendes« tun wollen – eine politische Motivation fehlt vollständig.

Expert*innen, darunter das in Berlin ansässige Zentrum für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas), sprechen bei diesem um sich greifenden Phänomen von »nihilistischer«, also »alles ablehnender« extremistischer Gewalt. Die Opferauswahl folge oft dem geringsten Aufwand. Ein von Cemas veröffentlichter Screenshot einer Signal-Gruppe zeigt die zynische Logik: Mehr Anerkennung bringe ein Angriff auf eine Synagoge, einfacher sei aber ein Massenmord an einer Schule, heißt es als Erläuterung zu dem ebenfalls in der Gruppe geposteten Beitrittslink.

Nun schaltet sich auch der EU-Koordinator für Terrorismusbekämpfung ein: In einem aktuellen Papier warnt der Niederländer Bartjan Wegter vor nihilistischer Gewalt als »rasch expandierender« Bedrohung. Anders als Cemas, das bei den Taten eine »fließende Grenze zum Rechtsterrorismus« sieht, spricht Wegter nur von »gewalttätigem Extremismus«. Denn anders als klassischer Terrorismus verfolge dieser kein kohärentes ideologisches Ziel. Stattdessen sei Gewalt selbst das Ziel – als Mittel zur Selbstbestätigung und zur Erlangung von Anerkennung in Online-Netzwerken.

In seinem Papier nennt der EU-Anti-Terror-Koordinator weitere Fälle: In Polen verhaftete die Polizei im Frühjahr und Herbst 2025 vier 19-Jährige, die Anschläge auf Schulen planten. Sie hatten den Ermittler*innen zufolge an Schießständen trainiert, militärisch-taktische Übungen absolviert und Waffen sowie Sprengstoff gesammelt. In Deutschland wurde ein 20-Jähriger aus Hamburg beschuldigt, eine führende Figur im berüchtigten »764«-Netzwerk zu sein – benannt nach einer US-Postleitzahl und berüchtigt für Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Der Gründer, Bradley Cadenhead, wurde 2023 zu 80 Jahren Haft verurteilt. Sein Netzwerk hat sich daraufhin in Untergruppierungen aufgespalten und agiert weiter.

Als Dachstruktur vieler dieser Gruppen und Netzwerke fungiert »The Com«, eine informelle, dezentrale Community. Deren Mitglieder, größtenteils männliche Minderjährige und junge Erwachsene, konkurrieren um Berühmtheit durch dokumentierte Gewalttaten – je brutaler, desto höher der Status, berichtete Cemas jüngst in einer Studie. Mit internationaler Dimension, wie ein Verfahren gegen den 20-jährigen »White Tiger« im Juni 2025 in Hamburg zeigte: Der junge Shahriar J. soll über Jahre Kinder zu Selbstverletzungen und sexueller Gewalt gezwungen haben. Ein 13-jähriger Amerikaner wurde nach Ermittlungsstand vor laufender Kamera in den Suizid getrieben, eine 14-jährige Kanadierin unternahm einen Suizidversuch. Dem Angeklagten werden über 120 Straftaten vorgeworfen, darunter Mord in mittelbarer Täterschaft. Das FBI führt laut Cemas über 250 Ermittlungen zu solchen Fällen allein in den USA.

Die Gruppen nutzen detaillierte Anleitungen, die Taktiken von als terroristisch eingestuften Organisationen wie dem »Islamischen Staat« übernehmen und für ein junges Publikum aufbereiten.

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»The Com« soll sich in drei Bereiche unterteilen: »Extortion Com« nutzt demnach Grooming und Erpressung zur sexuellen Ausbeutung Minderjähriger. »Cyber Com« konzentriert sich auf Hacking, das Veröffentlichen privater personenbezogener Daten mit Ziel der Schikane und Einschüchterung (Doxxing) und sogenanntes Swatting – das gezielte Auslösen von Polizeieinsätzen bei Opfern unter falschen Vorwänden. »Offline Com« animiert zu realen Gewalttaten bis hin zu Massenmorden. Wer Mitglied werden will, muss Gewalttaten nachweisen – etwa erzwungene Selbstverletzungen Minderjähriger.

Die Gruppen nutzen detaillierte Anleitungen, die Taktiken von als terroristisch eingestuften Organisationen wie dem »Islamischen Staat« übernehmen und für ein junges Publikum aufbereiten. Handbücher der Gruppe »No Lives Matter« (NLM) liefern etwa Anweisungen für Brandstiftung, Messerangriffe, Schießereien und den Bau von Sprengsätzen. Sie geben auch Tipps zur Opferauswahl und betonen die Wichtigkeit der Aufzeichnung und Veröffentlichung der Taten – als Performance für die Community.

Es sind jene Gruppen und Netzwerke, die Cemas »an der Grenze zum Rechtsterrorismus« sieht. Durch den Einfluss rechtsextremer Ideologien werde die Gewalt ganz bewusst in Richtung spezifischer Zielgruppen gelenkt, sagt Thilo Manemann von Cemas zu »nd«. Das betreffe besonders Gruppen wie »No Lives Matter« sowie »Maniac Murder Cult« (MKY) aus der Ukraine. Letztere ist in Großbritannien als Terrororganisation eingestuft und soll diese Entwicklung maßgeblich geprägt haben.

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Neonazistische Ästhetik, antisemitische und rassistische Äußerungen seien zwar ebenfalls zu beobachten, stellten laut Cemas-Studie aber nicht die primäre Handlungsmotivation für die Taten dar. »Anknüpfungspunkte für Rechtsterrorismus« ergeben sich laut Manemann aber auch, indem der »nihilistische Extremismus« Strategien des »Akzelerationismus« systematisch übernehme. Gemeint ist eine politisch-philosophische Idee, wonach die Beschleunigung kapitalistischer, technologischer oder gesellschaftlicher Prozesse die Systeme zum Kollaps bringt.

Wegter fordert von der EU nun dringende Maßnahmen: Die 27 Mitgliedstaaten müssten existierende Rechtsinstrumente wie die Terrorinhalte-Verordnung und das Digitale-Dienste-Gesetz konsequent auf nihilistischen Extremismus anwenden. Tech-Konzerne trügen Verantwortung für Algorithmen, die diese gewalttätigen Inhalte verbreiten. Plattformen, die entsprechende Inhalte oder sogar Live-Streams von Morden tolerieren, sollen deshalb öffentlich benannt werden. Bisherige Radikalisierungsmodelle versagten bei »ideologiefreier Gewalt«, schreibt der Anti-Terrorismus-Beauftragte, und warnt: Nihilistische Gewalt könnte von anderen Terrororganisationen oder Staaten instrumentalisiert werden – als Werkzeug, um verdeckt Gewalt zu säen.

Das Bundeskriminalamt (BKA) attestiert »nihilistischer extremistischer Gewalt« ein »gesteigertes Gefährdungspotenzial«, das sich auch in Deutschland verbreiten könnte. Trotzdem kommt das Phänomen erst langsam bei den deutschen Polizeien an. In ihrem bundesweit beim BKA einlaufenden Meldedienst gibt es dafür noch keine eigene Kategorie. »Hintergrund ist, dass es für Straftaten in diesem Zusammenhang beziehungsweise mit dieser konkreten Motivlage keine bundesweite Begrifflichkeit gibt«, erklärte ein Sprecher »nd«. Im Rahmen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes aus den Bundesländern können sie jedoch als politisch motivierte Straftaten eingestuft und den üblichen Themenfeldern zugeordnet werden.

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