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Kahlschlag im Olivenhain

Oliven gehören zur Identität der palästinensischen Landwirte im Westjordanland. Doch israelische Siedler und das Militär zerstören die Bäume

  • Chiara Cruciati, Sa’ir
  • Lesedauer: 7 Min.
Freiwillige helfen palästinensischen Bauern bei der Olivenernte im Westjordanland.
Freiwillige helfen palästinensischen Bauern bei der Olivenernte im Westjordanland.

Netham Schalalda sitzt auf einem Plastikstuhl im mit Kies bedeckten Hof seines Hauses, einem noch nicht vollständig fertiggestellten zweistöckigen Gebäude. Er wartet auf die Hochzeit seines ältesten Sohnes. Neben ihm sitzen seine drei Kinder; in der einen Hand hält er ein Glas Tee, in der anderen ein paar lose Zigaretten.

Die Olivenbäume der Familie grenzen an den Asphaltstreifen, der das Wadi Sa’ir durchschneidet, ein landwirtschaftlich genutztes Tal zwischen der palästinensischen Stadt Sa’ir und dem Flüchtlingslager Al-Arrub im besetzten Westjordanland.

Es ist ein milder, sonniger Tag nach einigen heftigen Regenfällen. Auf der Straße erscheint ein Soldat. Er wirft einen Blick auf das Familientreffen und geht zum gelben Tor, das seit Oktober 2023 nur wenige hundert Meter vom Haus der Familie Schalalda entfernt einen dauerhaften Checkpoint markiert. Auf den Hügeln, die das Tal umrahmen, erheben sich vier Außenposten der Siedler – auch nach israelischem Recht illegal errichtete Straßen und Häuser.

Netham Schalalda und seine Kinder sitzen seit über einer Woche abwechselnd im Hof und halten Wache. Sie fürchten die Rückkehr einer Gruppe von Siedlern, die sie immer wieder attackiert. Mehrmals sind diese schon zu ihrem Anwesen gekommen, haben ein Dutzend Bäume angezündet und etwa dreißig gefällt. Sie gaben Schüsse auf Kopfhöhe ab, verfehlten die Familie aber. »Seit drei oder vier Monaten geschieht das nun. Früher sind sie nicht bis hierhergekommen«, sagt der Familienvater.

»Auf den schwersten Angriff am vergangenen Sonntag folgten zwei weitere am Donnerstag und Samstag. Das erste Mal war es sechs Uhr abends. Wir haben die israelische Polizei verständigt.« Diese soll eigentlich das Leben aller Bewohner*innen beschützen – ganz gleich, ob sie palästinensisch oder israelisch sind. So erklärt es die israelische Regierung immer wieder. Doch die Praxis sieht oft anders aus: »Dann kam das Militär, hat meinen jugendlichen Sohn verhaftet und die Siedler einfach machen lassen«, berichtet Netham Schalalda.

Israelische Siedler haben während eines Angriffs auf ein Dorf im Westjordanland ein Fahrzeug in Brand gesteckt.
Israelische Siedler haben während eines Angriffs auf ein Dorf im Westjordanland ein Fahrzeug in Brand gesteckt.

»Es sind alles Jugendliche, abgesehen vom Anführer, der kaum älter als dreißig ist. Sie tauchten maskiert auf und waren mit Stöcken bewaffnet.« Er zeigt Videos: Der Vater schreit die Angreifer an, wird von ihnen umringt; dann lassen sie von ihm ab und entfernen sich wieder. »Meine Kinder haben ihre Arbeit aufgegeben, um Tag und Nacht hier zu sein. Schlafen kann man nicht; wir halten Wache«, erzählt er. »Wir haben Angst, dass sie das Haus niederbrennen.« Die Verluste sind für eine Bauernfamilie nicht tragbar. Netham Schalalda will trotzdem bleiben – auch wenn seine Stimme zittert.

In der Stadt Sa’ir treffen sich Landwirte in einem Gewächshaus. Bald ist Pflanzzeit. Sie besorgen sich neue Olivenbäume, weil sie bei den Angriffen Hunderte verloren haben. Einer zeigt Fotos von seinen Verlusten: 1700 Bäume in Minja. »Sie waren gerade einmal ein Jahr alt; dann haben die Siedler sie abgesägt und zerstört. Das Militär kam und erklärte mir, ich dürfe mein Land nicht mehr betreten. Geerntet habe ich nur von den Bäumen, die weit entfernt von Straßen und Siedlungen standen.«

Absprachen in Chatgruppen

Alle Landwirte schildern ähnliche Vorfälle: Die Siedler treffen sich am Kreisverkehr, der ins Wadi Sa’ir führt, und starten von dort aus ihre Angriffe. »Sie organisieren sich in Chatgruppen«, weiß Obada Akil. »Manchmal fällen sie die Bäume, manchmal stehlen sie Oliven, manchmal lassen sie Schafe die Oliven auffressen und die Ernte ruinieren.« Obada Akil hat in diesem Jahr einen halben Hektar Land verloren. Darauf standen Olivenbäume, Weinreben und Mandelbäume. Im April seien die Siedler mit Soldaten und Bulldozern erschienen. Alles hätten sie plattgemacht: »Sie sagten, es sei militärisches Gebiet. Auch die Wasserbrunnen wurden zerstört.« Das betrifft nicht nur ihn, sondern auch die Felder seiner Nachbarn Mohammed und Schadi. Sie stehen neben ihm und kaufen ebenfalls neue Olivenbäume. Aufgeben wollen sie nicht.

»Das ist eine Lebensinvestition«, sagt Elan, Eigentümer des Gewächshauses. »Junge Olivenbäume werden jahrelang gepflegt, bis sie Früchte tragen. Dann kommt ein Siedler aus Frankreich oder den USA und zerstört alles – Zeit, Arbeit, Existenz, Würde.«

In Palästina macht die Olivenbranche acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, wie das Landwirtschaftsministerium der palästinensischen Autonomiebehörde angibt; etwa 100 000 Menschen bietet sie ein Einkommen. 38,6 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen sind mit Olivenhainen bedeckt. Der Sektor befindet sich allerdings im freien Fall: Wurden bis 2023 jährlich zwischen 20 000 und 40 000 Tonnen Olivenöl produziert, so werden es 2025 nur maximal 7000 – nicht einmal ein Drittel des jährlichen Durchschnitts, wie die palästinensische Nichtregierungsorganisation Applied Research Institute Jerusalem (ARIJ) kürzlich berichtete.

Die Ursachen sind vielfältig: In diesem Jahr gab es eine schwere Dürre; hinzu kommen Siedlergewalt, die Einrichtung militärischer Sperrzonen sowie Landenteignungen zugunsten neuer jüdischer Siedlungen und Infrastruktur.

ARIJ schätzt, dass seit September Siedler und Militär über 11 500 Bäume ausgerissen haben. Hinzu kommen 1485 Angriffe in den ersten neun Monaten des Jahres und 264 im Oktober – im Schnitt acht Übergriffe pro Tag im Westjordanland, wie das UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) Anfang November berichtete. ARIJ registrierte sogar noch mehr Angriffe: 2700 von Januar bis September. Allein bei den Angriffen im Oktober gab es 140 Verletzte und 4200 zerstörte Bäume. In über 60 Gemeinden wurde die Ernte vollständig verhindert – sei es durch die Gewalt der Siedler, die Schikanen der Soldaten oder durch Beschlagnahmungen.

Auch die Landwirte in Silwad sind von der Landnahme betroffen, ein Städtchen mit 4000 Einwohnern nordöstlich von Ramallah: Im Dezember 2024 entstand auf dem Hügel, der zum Wadi Zeitun (»Tal der Oliven«) führt, ein neuer israelischer Außenposten. Das Militär erklärte das Areal sofort zum militärischen Sperrgebiet. Seitdem sind Tausende Olivenbäume dort unerreichbar. Musa Ahmad versuchte dennoch, dorthin zu gelangen – und wurde von gewalttätigen Siedlern mit Stöcken daran gehindert. »Sie haben mich und meinen Freund Ziad geschlagen. Mit diesen Leuten kann man nicht diskutieren.«

Ahmad ist ein siebzig Jahre alter Bauer – und sein Vertrauen in die Zukunft wirkt fast unerschütterlich: »Wir sind seit Generationen, seit Jahrtausenden hier. Auch diese Zeit wird vorbeigehen.« Der Optimismus zeigt sich in den Worten der Landwirte im Westjordanland: »Das Land gehört denen, die es bewirtschaften, nicht denen, die es zerstören«, sagen sie – gerichtet an jene, die Oliven verrotten ließen und die Saison ruiniert haben.

Die Ölmühle steht oft still

Wie gering die Ernte ist, kann Ricardo Dschawidschat gut einschätzen. Er arbeitet in der als Genossenschaft organisierten Ölpresse in Beit Dschala bei Bethlehem und verteilt die Quittungen an die Bauernfamilien. »Dieses Jahr werden es nur 30 oder 35 Prozent der Vorjahre. Schau dir die wenigen Personen in der Warteschlange an: Hier streitet man sonst um den eigenen Platz.«

Israelische Grenztruppen im Westjordanland
Israelische Grenztruppen im Westjordanland

Eine Frau aus Sur Baher wartet mit nur wenigen Jutesäcken: »Es sind gerade 250 Kilo Oliven; früher waren es drei Tonnen.« Ein Mann nickt entmutigt: »137 Kilo – das ist alles.« Auch Ricardo macht die Dürre (»ganz schlechtes Jahr«), die Siedler und die Soldaten verantwortlich: »Gemeinden wie Battir, Al-Walajah, Nahalin konnten kaum die Hälfte ihrer Felder erreichen, da ihnen aufgrund von Militäranordnungen der Zugang verweigert wurde – diese Flächen liegen jenseits der Mauer. Vor 2023 gewährte Israel noch Genehmigungen für die Ernte, jetzt nicht mehr.«

Il Manifesto

Der Text wurde »nd« zur Verfügung gestellt von der linken italienischen Tageszeitung »Il Manifesto«, mit der wir kooperieren.

Die Genossenschaft wurde 1963 von Landwirten gegründet – mit einer Lizenz der jordanischen Regierung. In den 1990er Jahren zählte sie 853 Mitglieder; weitere Aufnahmen waren nicht mehr möglich, und die Anteile werden von Generation zu Generation weitergegeben.

Heute ist die Stimmung düster: »Dieses Jahr haben wir weniger als 500 Tonnen Oliven gepresst; 2024 waren es noch 1200«, erzählt Ricardo und gibt eine weitere Quittung aus. Die Früchte werden gewogen, man bezahlt und wartet an der Ölpresse, bis man an der Reihe ist.

Die Maschinen – alle aus Italien – werden von Nidal bedient. Er trägt kurze Hosen, hat eine Pfeife um den Hals (»weil mich bei dem Lärm sonst keiner hört«) und eine Zigarette zwischen den Lippen. Dutzende Pakete stapeln sich neben der Ölpresse.

Früher lief die Presse zweieinhalb Monate rund um die Uhr. Heute wird erst gegen Mittag mit der Arbeit begonnen: Es gibt keinen Andrang. Nach einer halben Stunde tropft der erste dichte Ölstrahl heraus. Nidal füllt ein Glas, probiert: »Ich trinke jeden Tag eines davon – und bin der gesündeste Mann der Stadt.«

Dieser Text ist am 20. November in unserem italienischen Partnermedium »Il Manifesto« erschienen. Der Beitrag wurde übersetzt und nachbearbeitet.

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