Kampf gegen die Beschäftigten

Seit Kriegsbeginn schränkt die ukrainische Regierung immer mehr Arbeitsrechte ein – doch langsam kippt die Stimmung

  • David Zauner
  • Lesedauer: 8 Min.
Die ukrainische Regierung hat die Arbeits- und Gewerkschaftsrechte geschwächt. Beschäftigten kann nun leichter gekündigt werden, die maximale Wochenarbeitszeit liegt bei 60 Stunden, und erlaubt ist auch Wochenendarbeit ohne Zuschläge.
Die ukrainische Regierung hat die Arbeits- und Gewerkschaftsrechte geschwächt. Beschäftigten kann nun leichter gekündigt werden, die maximale Wochenarbeitszeit liegt bei 60 Stunden, und erlaubt ist auch Wochenendarbeit ohne Zuschläge.

Schwarz uniformierte Sicherheitskräfte drangen am 5. Juni in das Haus der Gewerkschaften ein. Das symbolträchtige Gebäude am Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew, ist Hauptsitz des größten Gewerkschaftsbundes des Landes, der Föderation der Gewerkschaften der Ukraine (FPU). Die Einsatzkräfte forderten die Gewerkschafter*innen auf, ihre Sachen zu packen. Das Haus sei konfisziert, erklärten sie. Vor dem Haus hinderten sie Mitarbeiter*innen und Journalist*innen am Betreten und drohten mit Gewalt.

Von einer neuen Eskalationsstufe spricht Wasyl Andrejew, Präsident der Baugewerkschaft Profbud. Trotz der scharfen Regierungskampagne gegen Gewerkschaften kam dieser Schritt für alle überraschend. Bis zu diesem Tag hatte auch Profbud als Mitglied der FPU ihren Sitz im Haus der Gewerkschaften.

Hinter der Aktion stand die Asset Recovery and Management Agency (Arma), eine staatliche Behörde zur Sicherung und Verwaltung von Korruptionsvermögen. An diesem Tag wurde sie von schwer bewaffneten Sicherheitskräften sowie einer von ihr selbst eingesetzten neuen, privaten Hausverwaltung begleitet.

Die Konfiszierung ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines seit Jahren eskalierenden Konflikts. Internationale Gewerkschaftsverbände kritisieren, dass die Beschlagnahmung in ein facettenreiches Muster der Repression passe, das von Einschüchterungen über strafrechtliche Ermittlungen bis hin zu legislativen Angriffen reiche.

Bereits zuvor hatte die Regierung mehrfach versucht, die Liegenschaften der FPU in Staatshand zu überführen. Der Verband hatte das Gebäude von seiner sowjetischen Vorgängerorganisation Ukrprofrada übernommen. 2023 argumentierte eine parlamentarische Kommission, der Übertragungsvertrag sei gefälscht. Als Beleg führte sie an, der Vertrag aus dem Jahr 1990 sei in Times New Roman verfasst – eine Schriftart, die es angeblich erst seit 1992 gebe. Tatsächlich hatte der britische Typograf Stanley Morison die Schrift jedoch bereits 1932 für die Londoner Tageszeitung »The Times« entworfen, wie eine kurze Internetrecherche zeigte.

Die Arma begründete ihr Vorgehen mit Korruptionsvorwürfen. Zwischen 2016 und 2018 sollen Gewerkschaftsfunktionär*innen Immobilien der FPU veruntreut und sich persönlich bereichert haben. Auf dieser Grundlage beschlagnahmte die Behörde neben dem Gewerkschaftssitz zahlreiche weitere Gebäude der FPU. Bereits im April hatten Ermittlungsbehörden den FPU-Präsidenten Hryhorij Osowyj sowie vier weitere Funktionäre festgenommen. Osowyj steht seither unter Hausarrest.

Es geht nicht nur um Korruption

Zum laufenden Verfahren könne er nichts sagen, erklärt Gewerkschaftspräsident Wasyl Andrejew. Ihm seien jedoch keine belastbaren Belege für die erhobenen Anschuldigungen bekannt. Die FPU sowie zahlreiche Gewerkschaften im In- und Ausland kritisierten die Inhaftierung als politisch motiviert. Ziel des Vorgehens sei es vor allem, den größten Gewerkschaftsbund des Landes zu destabilisieren, so der Vorwurf.

Selbst wenn die Korruptionsvorwürfe Substanz haben sollten, hält der Arbeitsrechtsanwalt Witalij Dudin das Vorgehen der Regierung für unverhältnismäßig. »Ein Verfahren gegen einzelne kann keine Maßnahmen rechtfertigen, die eine gesamte Organisation treffen.« Auch Dudin sieht hinter der Eskalation politische Motive. »Unsere Regierungspartei verfolgt einen klar neoliberalen Kurs. Bislang waren die Gewerkschaften die einzigen Akteure, die sich diesem Kurs ernsthaft entgegengestellt haben.«

»Unsere Regierungspartei verfolgt einen klar neoliberalen Kurs. Bislang waren die Gewerkschaften die einzigen Akteure, die sich diesem Kurs ernsthaft entgegengestellt haben.«

Witalij Dudin Arbeitsrechtsanwalt

Mit der Partei Sluha narodu (Diener des Volkes) errang Wolodymyr Selenskyj 2019 einen in der ukrainischen Geschichte beispiellosen Wahlsieg. Seine Fraktion verfügt über nahezu 60 Prozent der Sitze in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament. Bereits vor Beginn der russischen Invasion hatte sie mehrfach versucht, das Arbeitsrecht zugunsten der Unternehmer*innenseite zu reformieren. Aufgrund massiver, von den Gewerkschaften angeführter Proteste musste sie jedoch jedes Mal zurückrudern.

Mit Beginn des Krieges hat sich die Ausgangslage grundlegend verändert. Das geltende Kriegsrecht lässt weder Demonstrationen noch Streiks zu. Viele Gewerkschaftsmitglieder kämpfen an der Front oder leben im Exil. »Die Regierung hat diese Situation nicht geschaffen, aber sie hat sie zweifelsohne ausgenutzt«, sagt Dudin, der eine zentrale Figur der sozialen Bewegung Sozialnyj Ruch ist.

Einmaleins der Marktliberalisierung

Im März 2022, nur wenige Wochen nach Beginn des Krieges, verabschiedete das Parlament die ersten Reformen des Arbeits- und Gewerkschaftsrechts. Darunter befanden sich ausgerechnet jene neoliberalen Gesetzesvorhaben, die zuvor wiederholt am Widerstand der Gewerkschaften gescheitert waren.

Die neuen Regelungen erleichtern Kündigungen, erhöhen die maximale Wochenarbeitszeit von 40 auf 60 Stunden und erlauben Wochenendarbeit ohne Zuschläge. Nur ein Teil dieser Maßnahmen lasse sich, so Dudin, mit dem Kriegszustand begründen. »Viele gehen weit darüber hinaus. Sie schwächen die Rolle von Tarifverträgen und kollektiven Verhandlungen. Das ist das Einmaleins der Marktliberalisierung.«

In den folgenden Monaten beschloss die Regierung weitere Reformen. So führte sie unter anderem sogenannte Null-Stunden-Arbeitsverträge ein. Beschäftigte stehen dabei auf Abruf bereit und werden ausschließlich für tatsächlich geleistete Arbeitsstunden entlohnt. Zwar garantiert das Gesetz ein Mindestkontingent von 32 Stunden pro Monat, doch die Regelung öffne, warnt der Arbeitsrechtsanwalt Dudin, die Tür für eine Zwei-Klassen-Belegschaft. »Loyale, also nicht gewerkschaftlich organisierte Mitarbeiter*innen erhalten sichere Verträge. Alle anderen müssen aufgrund prekärer Arbeitsverhältnisse ständig fürchten, nicht eingesetzt oder unter vorgeschobenen Gründen entlassen zu werden.«

Die Reformagenda der Regierung ist damit noch nicht abgeschlossen. Im vergangenen Jahr legte das Wirtschaftsministerium den Entwurf für ein neues Arbeitsgesetzbuch vor. Er umfasst 329 Artikel, mit denen nach Angaben der Regierung Entbürokratisierung und eine Annäherung an europäische Standards erreicht werden sollen. Kritiker*innen sehen darin jedoch eine weitere Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Unternehmer*innenseite.

Ohne die Nennung von Gründen könnten Betriebe demnach innerhalb einer Woche neue Arbeitszeiten und Löhne festlegen. Beschäftigte könnten während laufender Kündigungsverhandlungen ohne Bezahlung suspendiert werden. Gewerkschaften verlören jedes Mitspracherecht bei betrieblichen Entscheidungen. »All das«, sagt die Politökonomin Julia Jurtschenko, Dozentin an der Universität Greenwich in London, »würde das ukrainische Arbeitsrecht nicht näher an die EU heranführen, sondern es im Zuge der fortschreitenden Deregulierung weiter von ihr entfernen.«

Gegenwind für die Regierung

Nach der Schockstarre zu Beginn des Krieges haben die Gewerkschaften inzwischen wieder Tritt gefasst. Bislang verhinderten sie erfolgreich, dass der Gesetzentwurf dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt wird. Viele sehen einen direkten Zusammenhang zwischen dem wachsenden Widerstand und der Eskalation staatlicher Repression. Die Regierung habe unterschätzt, wie stark der Gegenwind ausfallen würde, mutmaßt Dudin. Und nicht nur internationale Gewerkschaftsbündnisse äußerten harsche Kritik – auch in der Bevölkerung scheint die Unzufriedenheit zu wachsen.

Der Unmut entlud sich Anfang November am Rande eines Gipfels im Zentrum Kiews, der eigentlich dem ukrainischen Beitrittsprozess zur EU gewidmet war. »Wie kann hier über den EU-Beitritt diskutiert werden, während Gewerkschaftsgebäude beschlagnahmt werden?«, fragte eine Zuschauerin. Ein Mann mittleren Alters kritisierte, 95 Prozent der Reformen der Regierung seien weder progressiv noch EU-konform, sondern bewegten sich irgendwo zwischen »neoliberal bis libertär«. Die anwesenden ukrainischen Abgeordneten wirkten sichtlich angespannt und blieben Antworten schuldig.

Eingeladen zu dem Gipfel hatte die sozialdemokratische Fraktion des EU-Parlaments. Mehrere Europaabgeordnete mahnten in ihren Redebeiträgen – ohne die Angriffe auf Gewerkschaften direkt zu benennen –, dass der derzeitige Kurs in die falsche Richtung gehe. Auch Ökonomin Jurtschenko sprach auf der Veranstaltung und nahm, anders als viele EU-Abgeordnete, kein Blatt vor den Mund. Wenn sich Politik ausschließlich an den Interessen der Unternehmen und nicht an denen der Arbeiter*innen orientiere, wem solle der versprochene Fortschritt dann nützen?, fragte sie.

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»Wir brauchen eine Politik für die Mehrheit – nicht nur für Oligarchen. Eine Politik, die sich mit Umschulung und Weiterqualifizierung, Kinderbetreuung und flexiblen Arbeitszeiten für Eltern sowie bezahlbarem Wohnraum befasst«, erklärte Jurtschenko gegenüber dem »nd«. Auf dem Gipfel wurde sie schließlich deutlich: Das Vorgehen der Regierung gegen Gewerkschaften sei autoritär und absolut inakzeptabel. »Wir sind nicht Russland. Wir sind die Ukraine.«

Das Publikum applaudierte, obwohl die meisten ukrainischen Abgeordneten den Saal längst verlassen hatten. Die Regierung wisse, dass sie mit der Inhaftierung von Hryhorij Osowyj und der Konfiszierung des Hauses der Gewerkschaften eine rote Linie überschritten habe, sagt Dudin. Die FPU hat inzwischen einen neuen Hauptsitz bezogen, keine zwei Kilometer vom Haus der Gewerkschaft entfernt. Seit Juli steht mit Serhij Bysow zudem ein neuer Präsident an der Spitze des Bündnisses.

Tatsächlich gibt sich die Regierung seit einigen Monaten versöhnlicher. Bei den Feierlichkeiten zum 35-jährigen Bestehen der FPU im Oktober zeigten sich mehrere Abgeordnete der Regierungspartei und lobten öffentlich die Arbeit der Gewerkschaft. »Nach all den Kampagnen gegen die Gewerkschaften war das ein skurriles Bild«, erinnert sich Dudin.

Das geplante Arbeitsgesetzbuch soll dem Parlament vorerst nicht zur Abstimmung vorgelegt werden, heißt es aus Parlamentskreisen. An einen grundlegenden Kurswechsel glaubt Dudin dennoch nicht. »Sie werden es wieder probieren. Daran habe ich keinen Zweifel.«

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