»Wozzeck«: Die Hölle ist kalt dagegen

Vor 100 Jahren wurde Alban Bergs »Wozzeck« an der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführt – und erklingt ungebrochen aktuell erneut an diesem Ort

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 8 Min.
Der geschundene Wozzeck (Simon Keenlyside) dient dem Hauptmann als Fußabtreter (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke).
Der geschundene Wozzeck (Simon Keenlyside) dient dem Hauptmann als Fußabtreter (Wolfgang Ablinger-Sperrhacke).

Vor 100 Jahren feierte eine der wichtigsten und großartigsten Opern des 20. Jahrhunderts Premiere an der Berliner Staatsoper Unter den Linden: Alban Bergs »Wozzeck«. Und auf den Tag genau 100 Jahre danach, am vergangenen Sonntag, kam die Wiederaufnahme der Inszenierung von Andrea Breth aus dem Jahr 2011 – damals an der Ausweichspielstätte im Schiller-Theater unter Daniel Barenboim – am Stammhaus Unter den Linden zur Aufführung. Eine Inszenierung, die zum Triumph geriet.

Bergs Oper ist ein Meisterwerk der expressionistischen Moderne und unvermindert aktuell. Dies ist nicht zuletzt der spröden und gerade dadurch so ausdrucksstarken Dichtung Georg Büchners zu verdanken, aus dessen Fragment Berg 15 Szenen zusammenstellte. Berg ging der Versuchung, diese Szenen illustrierend »durchzukomponieren«, geschickt aus dem Weg. Er »gehorchte«, wie er selbst vermerkte, »der gebieterischen Forderung, musikalisch jeder dieser Szenen, jeder der dazugehörenden Zwischenaktsmusiken sowohl ihr eigenes, unverkennbares Gesicht als auch Abrundung und Geschlossenheit zu geben«.

So entstanden für den ersten Akt »Fünf Charakterstücke«, für den zweiten eine »Symphonie in fünf Sätzen« und für den dritten »Fünf Inventionen«. Etwa 100 Minuten kompliziertester und doch eingängiger, verstörender wie faszinierender Musik. Da wimmelt es nur so von alten und neuen musikalischen Formen, seien es Fugen, Suiten- und Sonatensätze, Passacaglien oder Variationen. Da findet sich geradezu ein Überangebot von kompositorischen Details wie der Wozzeck-Akkord (in den Posaunen: F c e as), thematische Rhythmen (der Soldat-Rhythmus in der 1. Szene), irrsinnig schwierig zu spielende (und zu dirigierende) Vorgaben, etwa wenn ein 6/4-Takt in Triolen vorgeschrieben wird oder ein Teil des Orchesters einen anderen Takt hat als der andere. Ständig sind »dirigentische Nüsse zu knacken«, wie Generalmusikdirektor Christian Thielemann im Hintergrundgespräch erklärte.

Dem Komponisten ging es darum, »dem Theater zu geben, was des Theaters ist«, also »die Musik so zu gestalten, dass sie sich ihrer Verpflichtung, dem Drama zu dienen, in jedem Augenblick bewusst ist«. Das ist vermutlich das Geheimnis dieser visionären, immer wieder faszinierenden Musik – »es darf im Publikum keinen geben, der etwas von der Kunstfertigkeit« der Partitur »merkt – keinen, der von etwas anderem erfüllt ist, als von der weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinausgehenden Idee dieser Oper« (Berg).

Was ist also die »Idee« dieser Oper? »Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?« Büchner schreibt, dass er sich »wie zernichtet fühlte unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte«. Wozzeck ist ein Armer – immer wieder hören wir das Hauptmotiv dieser Oper, das persönliche Leit- und Leidmotiv Wozzecks, aber auch jenes der sozialen Verhältnisse: »Wir ar-me Leut!«, vier Töne eines Moll-Septakkords, drei abwärts gesungen, dann eine kleine Terz aufwärts.

Wozzeck wird von den Vertretern der etablierten Gesellschaft erniedrigt und entmenschlicht – dargestellt von den spleenigen Figuren Hauptmann und Arzt, die erhabene, in ihrer Substanzlosigkeit jedoch lächerlich klingende Floskeln absondern und gleichzeitig den einfachen Soldaten Wozzeck quälen und zu einem Versuchsobjekt ihrer Allmachts- und Aufstiegsfantasien degradieren.

Der Hauptmann verfolgt eine politische Agenda, die uns sattsam bekannt vorkommt: Man solle als »ein guter Mensch« leben, und das heißt, »eine Moral« zu haben: »Moral: Das ist, wenn man moralisch ist!«, singt er, nachdem er sich in Positur gesetzt hat, »mit viel Würde«, wie die Partitur vorschreibt, aber in lächerlichem Falsett endend.

Letztlich hat der zu hysterischen Anfällen neigende Hauptmann (großartig als eine Art faschistischer Clown: Wolfgang Ablinger-Sperrhacke) Angst vor dem Tod. Berg, durchaus auch Satiriker, verwendet hier ein dreitöniges, über eine None reichendes Motiv, das er zunächst fortissimo bei »Sarg-na-gel« einsetzt, um es schließlich in einem spontanen Todesschrei kulminieren zu lassen, der eine fallende Doppel-Oktav-None umspannt, als er die vom Doktor prognostizierte wahrscheinliche Todesursache »Apoplexia cerebri« (Schlaganfall) registriert. Der Doktor (der den Hauptmann zu einer Art diabolischem »Dick und Doof« ergänzt) wiederholt sarkastisch »Apoplex-i-a«, und in der Partitur steht, genau, die Ausführungsbestimmung »wie ein Esel«.

Mit ihrer immensen Brutalität zwingen »die Verhältnisse« den Wozzeck in eine ausweglose, katastrophische Situation. Er dient dem Hauptmann als Bartschneider und dem Arzt als Opfer eines medizinischen Experiments, beides, um sich ein Zubrot zu sichern, das er der Mutter seines Sohnes aushändigt.

Wozzeck ist ein klassischer Aufstocker, wie wir ihn heutzutage kennen, das Geld reicht hinten und vorne nicht. Alban Bergs »Wozzeck« ist »eine Metapher der Armut« (Regisseurin Andrea Breth). Das Bühnenbild (Martin Zehetgruber) ist ein klaustrophobisch enges Gehäuse; wir sehen meist nur einen winzigen Raum, abgetrennt durch Holzgitter, es gibt keine Privatheit, keine Rückzugsmöglichkeit. Die Verhältnisse schlagen mit unerbittlicher Härte zu und gewähren keinen Ausweg.

Nur einmal, als er vom Hauptmann wiederholt aufgefordert wird zu reden, zeigt Wozzeck, dass es ihm an Klassenbewusstsein durchaus nicht mangelt: »Ja, wenn ich ein Herr wär’ und hätt’ einen Hut und eine Uhr und ein Augenglas und könnt’ vornehm reden, ich wollte schon tugendhaft sein! Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl! Unsereins ist doch einmal unselig in dieser und der andern Welt! Ich glaub’, wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen!«

Das ist Wozzecks große Replik auf den Hauptmann und gegen die Zustände, die sein Dasein prägen, ein kurzer Moment der Auflehnung, ein Aufschrei. Der »sich aufrichtende Wozzeck« (wie Berg diese Stelle in seinem Themen-Verzeichnis nennt) hat etwas Bedrohliches an sich; der Hauptmann spürt die drohenden Untertöne. Berg verwendet dafür einen charakteristischen Zwölftonterzakkord, also eine Zwölftonreihe, deren »strukturelles Merkmal darin besteht, dass sie nur zwei Intervalle aufweist, die kleine Terz und die große Terz« (Peter Petersen).

In diesem Augenblick erleben wir eine ungeheure Möglichkeit, nämlich dass Wozzeck und mit ihm das damalige und ebenso das heutige Prekariat den aufrechten Gang probt. Doch Wozzeck nimmt die am Horizont aufscheinende vage Chance direkt zurück, denn selbst wenn die Proletarier in den Himmel kämen, würden sie wohl »donnern helfen« müssen: die Ausweglosigkeit der Unterschicht, der auf Erden nicht zu helfen ist.

Später sagt Wozzeck: »Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel! Hab’ sonst nichts auf dieser Welt!« Nichts außer der Liebe. »Die Erd’ ist manchem höllenheiß, die Hölle ist kalt dagegen«, so erleben es die Armen, für sie ist die Erde der schlimmstmögliche Ort. Und sie werden von denen mit vermeintlicher »Moral« sogar vollends in den Abgrund gestoßen, wie Wozzeck von Hauptmann und Doktor in einer Schlüsselszene der Oper (und zwar in einer kunstvollen Tripelfuge, die das ungleiche Dreieck der Akteure dieser Szene abbildet).

Nirgends findet Wozzeck einen Halt. Nicht bei Marie (herausragend in Gesang und Darstellung: Anja Kampe), die eigene Sehnsüchte hat und sich mit dem Tambourmajor einlässt (herrlich komödiantisch als aufgeplusterter Muskelprotz: Andreas Schager, übrigens pikanterweise Kampes Partner in »Tristan und Isolde«). Nicht bei seinem Kumpel Andres, der wenig Verständnis hat für Wozzecks Visionen; Andres hat sich längst mit den Verhältnissen abgefunden, er singt ein fröhliches Jägerlied.

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Allerdings hat Berg dazu eine halsbrecherische, absichtsvoll rückständige Koloratur komponiert. Es ist offensichtlich, dass der Komponist hier einen Mitmacher, einen Angepassten karikiert. »Jäger bin ich auch schon gewesen«, verkündet Andres in wachsendem Tempo, um in einer abwärts gerichteten Melodie zuzugeben: »Schießen kann ich aber nit!« Er verfügt also letztlich auch über keine Möglichkeiten, die Verhältnisse zu ändern.

Wozzeck dagegen sieht, nein, »erlebt« förmlich allerlei Zeichen – die er allerdings nicht zu deuten vermag. »Der Platz ist verflucht«, sagt er wiederholt zu Andres, beim zweiten Mal spielen die Streicher wogende chromatische Tonfolgen dazu, das Xylophon scheppert, und die Posaunen, die von Berg dem Wozzeck zugedachten persönlichen Instrumente, schreien fortissimo in kühnen Quarten und in Varianten des Tritonus auf. Wozzeck spürt den brodelnden Untergrund, den Platz, »wo die Schwämme nachwachsen« und abends auch schon mal ein Kopf rollt. Und wenn er auf den Boden stampft, merkt er: »Alles hohl! Ein Schlund! Es schwankt …«

Als schließlich die Sonne untergeht und ihr »letzter scharfer Strahl den Horizont in das grellste Sonnenlicht taucht«, meint Wozzeck »ein Feuer« zu sehen, das »von der Erde in den Himmel führt«, und alle Pauken, Becken, Trommeln und Tamtams veranstalten gemeinsam mit den Streichern einen nach und nach heraufdröhnenden, sich apokalyptisch steigernden und sich mit dem stehenden Sechsklang der wilden Posaunenklänge verbindenden wahren Höllenlärm.

Ja, Wozzeck spürt die Veränderungen, die kommen müssen, allein, er vermag die Verhältnisse nicht zu ändern. Er bleibt ewig ein Getriebener, eindringlich verkörpert von Simon Keenlyside.

Das eigentliche Wunder aber passiert im Orchestergraben. Christian Thielemann und die Staatskapelle gestalten die moderne, mitunter auch spätromantische Musik Alban Bergs (der sich gegen die »fälschliche« Bezeichnung der Atonalität verwahrte) unvergleichlich berührend. Das beginnt beim unterschwelligen, schrecklichen Donnergrollen, dieser permanenten Bedrohung, und endet nicht bei der sehnsuchtsvollen Wozzeck-Musik. Die letzte Zwischenmusik mit ihren Parsifal-Anklängen gerät geradezu zauberisch.

Gleichzeitig verrät Thielemann, der »Wozzeck« für »eines der bedeutendsten Musiktheaterwerke überhaupt« hält, Bergs, sagen wir: »unkulinarische«, Komposition an keiner Stelle, denkt in weiträumigen Perioden und lässt die Staatskapelle nie den Text übertünchen; die Dichterworte in ihrer mitunter puccinihaften Gesanglichkeit, dann wieder in staccatoartigem Sprechgesang sind jederzeit klar zu hören. Das riesig besetzte Orchester – allein schon vier Trompeten, vier Posaunen, vier Hörner, dazu zwei Paar Pauken und großes Schlagwerk – ist kaum einmal »laut«, sondern bringt die Komposition subtil zur Geltung.

Adorno schrieb, Alban Bergs Wozzeck-Musik sei eine »Musik des realen Humanismus«, ein Werk der »Identifikation mit dem Unterliegenden, mit dem, was die Gesellschaft zu tragen hat«.

Die Uraufführung geriet vor 100 Jahren an der Staatsoper zu einem Ereignis, und Ähnliches darf man von der aktuellen Wiederaufnahme berichten. Ein Ereignis, das man keinesfalls verpassen sollte.

Nächste Vorstellungen: 18., 21.12. und 4.1.
www.staatsoper-berlin.de

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