Victor Grossman: Grenzgänger und Weltenbürger

Der US-amerikanische Journalist Victor Grossman ist tot

Ein Jahrhundertzeuge, dem junge Menschen gern zuhörten: Victor Grossman
Ein Jahrhundertzeuge, dem junge Menschen gern zuhörten: Victor Grossman

»Best wishes to all of you – for good food, good drink, good books, good times and good health. And peace to all of you«, schrieb er vor einem Jahr in seinem Online-Bulletin. Seinen Gruß zum Jahreswechsel 2024/25 an Freunde, Bekannte, langjährige Weggefährten, treue Leser und Leserinnen weltweit beendete er mit der für ihn typischen Formel: »Shalom! As-salaam alaikum! No pasarán! Pasaremos!« Und er signierte das Schreiben mit »Victor – or Steve«.

Der Journalist Victor Grossman ist in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch im Alter von 98 Jahren in einem Berliner Krankenhaus verstorben. 1928 in New York als Enkel von aus dem russischen Zarenreich vor antisemitischen Pogromen in die USA geflohenen Juden geboren, Sohn eines Kunsthändlers und einer Bibliothekarin, war Stephen »Steve« Wechsler, so sein Geburtsname, bereits in jungen Jahren politisch sensibilisiert, schloss sich 1942 der Kommunistischen Jugend und drei Jahre später der KP der USA an. Nach erfolgreichem Studium der Ökonomie und Gewerkschaftsgeschichte an der Harvard University verdingte er sich als Fabrikarbeiter, um für die Kommunistische Partei in der Arbeiterschaft zu werben, wurde jedoch nach einem Jahr in die US-Armee einberufen und mit seiner Einheit nach Bayern geschickt. Als ihm eine Anhörung wegen seiner verschwiegenen Mitgliedschaft in der KP der USA drohte, desertierte Wechsler über Österreich und die Tschechoslowakei in die DDR. Es war die Zeit des Kommunistenjägers McCarthy, der nicht vor der Anklage renommierter Hollywood-Größen oder namhafter deutscher Emigranten zurückschreckte.

In der DDR wurde Stephen Wechsler zu seinem Schutz zu Victor Grossman. Er studierte Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig, arbeitete für die vom britischen Journalisten John Peet herausgegebenen Zeitschrift »German Democratic Report« sowie für Radio Berlin International, leitete das Paul-Robeson-Archiv an der Akademie der Künste der DDR und schrieb über Jahrzehnte für verschiedene Tageszeitungen, darunter »nd« und die »Junge Welt«.

Erst 1994 konnte er es wagen, in sein Geburtsland zurückzukehren. Victor Grossman hat zeitlebens seine US-Staatsbürgerschaft trotz kritischer Haltung zu den Regierenden in Washington nie aufgeben. Er engagierte sich in zivilgesellschaftlichen Bewegungen, unterstützte unter anderem die Kampagne zur Freilassung des seit über 40 Jahren in US-Haft befindlichen afroamerikanischen Journalisten Mumia Abu-Jamal, beteiligte sich bis ins hohe Alter als Mitglied der VVN-BdA an Kundgebungen und Demonstrationen gegen in der Bundesrepublik erstarkende rechte Kräfte und setzte sich für Frieden in Nahost, für Verständigung und Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Publizistisch hat Victor Grossman sich mehrfach mit dem Spanienkrieg (1936–1939) befasst, den er als Prolog zum Zweiten Weltkrieg verstand. Zuletzt haben das neue Wettrüsten sowie der Krieg um die Ukraine und in Gaza den Veteranen zu öffentlichen Positionierungen bewegt.

Victor Grossman war im wahrsten Sinne des Wortes ein Grenzgänger und Weltenbürger.

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