Krank machende Arbeit ist der Skandal

Nelli Tügel findet die alljährliche »Blaumacher«-Debatte besonders rund um Weihnachten verwerflich

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.
Kommt das Geschenk noch rechtzeitig an? Paketzusteller sind dieser Tage besonders im Stress und damit krankheitsanfälliger.
Kommt das Geschenk noch rechtzeitig an? Paketzusteller sind dieser Tage besonders im Stress und damit krankheitsanfälliger.

»Wir haben zu viele Fehltage«, ließ Friedrich Merz vor ein paar Wochen verlauten. Mit »wir« meinte er natürlich nicht sich selbst, sondern: lohnabhängig Beschäftigte. Sie seien zu oft krank. Seine Wirtschaftsministerin Katherina Reiche schlug passend dazu vor, die Lohnfortzahlung am ersten Krankentag zu streichen. Die ARD fragte Ende November: »Sind wir ein Land der Blaumacher?«

Anlass für diese Schlagzeile war die Veröffentlichung der neuen Krankentagedaten. Die Erhebung bietet tatsächlich Anlass zur Sorge, aber nicht, weil zu viel »blaugemacht« würde (schön wär’s!), sondern weil sie darauf hindeutet, dass viele Menschen von der Arbeit selbst krank werden. So sorgen Muskel-Skelett-Erkrankungen wie Bandscheibenvorfälle für die meisten Fehltage; auch psychische Leiden sind vorn dabei. Gestiegen sind seit 2021 zudem Krankmeldungen aufgrund von Atemwegserkrankungen. Dass Menschen nun auch bei einer »normalen« Erkältung eher zu Hause bleiben als, wie lange üblich, krank zur Arbeit zu gehen, ist die einzig gute Nachricht in dieser Angelegenheit.

Nelli Tuegel

Nelli Tügel ist Redakteurin der Monatszeitung »analyse & kritik« und freie Journalistin. Hier nimmt sie Ausbeutung, Arbeiter*innenbewegungen und linke Strategien unter die Lupe.

Die Wahrheit ist aber auch: Das können längst nicht alle. Während zum Jahresende ein Vorschlag nach dem anderen kursiert, wie Lohnabhängigen noch mehr Lebenszeit abgepresst werden könnte – Erhöhung des Renteneintrittsalters, Streichung gesetzlicher Feiertage und so weiter –, ackern rund um Black Friday und Weihnachten Zehntausende, vor allem migrantische Arbeiter*innen in Amazon-Logistikzentren, für Paketzustellunternehmen oder Essenslieferdienste, als gäbe es kein Morgen. Ein grelles Schlaglicht darauf warf der Tod eines 59-Jährigen im Fulfillment-Center von Amazon in Erfurt. Der Deutsch-Algerier erlitt dort kurz vor der verkaufsintensiven Black Week während der Schicht einen Herzinfarkt und lag mehrere Stunden auf der Toilette, bevor er gefunden wurde.

Ob Merz oder Reiche von dem Fall gehört haben, ist nicht bekannt. Dabei erzählt er einiges zum Thema Fehltage und »Land der Blaumacher«. Wie die »Taz« herausfand, hatte der Arbeiter seinem Vorgesetzten am Tag seines Todes berichtet, dass er sich unwohl fühle, sich aber nicht krankgemeldet. Laut Verdi war kurz zuvor die Stelle des Betriebssanitäters abgeschafft worden; gegenüber dem »Stern« äußerte ein Gewerkschafter die Vermutung, dass kranke Beschäftigte von diesem »zu oft« (für die Leitung) nach Hause geschickt worden seien. Laut Gewerkschaft sei der Druck aktuell besonders hoch, nicht krank zu werden – an Urlaub sei gar nicht zu denken. An anderen Stellen der heiß laufenden Warenlieferkette leiden laut Krankenkassendaten Paketzusteller*innen, wenig verwunderlich, oft unter Muskel-Skelett-Erkrankungen.

Der Bundestag geht diesen Freitag in die Winterpause. Viele derer, die dort klagen, dass zu viele Menschen in Deutschland zu oft frei hätten oder krank »feierten«, werden den Heiligabend im Kreise ihrer Lieben verbringen, während andere noch Last-Minute-Geschenke zustellen. Frohe Weihnachten und ein gesundes neues Jahr? Wenn Krankentage wie Erbsen gezählt, Lohnfortzahlung, Urlaub und Feiertage infrage gestellt werden, ist das nichts als blanker Hohn.

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