Kein Leben, nur Arbeit

Hamburgs City Nord gilt als seelenlos, weil darin kaum Menschen wohnen. Nach Feierabend ist sie ein unbelebter Ort, der sich kaum revitalisieren lässt.

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 6 Min.
»Wer die City Nord nicht kennt«, schreibt der Hamburger Verleger Rolf von Bockel, »wer zudem einen masochistischen Hang zur Einsamkeit hat, der sollte sich an einem Sonntag hierher begeben und spazieren gehen.« Was den Flaneur erwartet, schildert von Bockel so: »Betonwüste in Kombination mit ordentlich gemähtem Rasen. Platten. Einerlei von Glas und Stahl. Laternenpeitschen.« Und dann sind seien da noch die überbreiten Straßen – gemacht für Autos, nicht für Menschen. Die »Bürostadt im Grünen« genießt heute keinen guten Ruf, obwohl sie Architekten aus aller Welt immer noch – bezogen auf die Stadtplanung der 60er und 70er Jahre – als »Unikat ersten Ranges« gilt. Der Grund für das sonst schlechte Image: Hier wird nur gearbeitet, nicht gelebt.
»Ab und zu mal ein Copyshop« - Peter Schütt in der City Nord.
»Ab und zu mal ein Copyshop« - Peter Schütt in der City Nord.

»Was, hier leben Menschen?«, soll es so manchem Taxifahrer entfahren, der einen der wenigen Bewohner vom Mexiko- oder Überseering abholt. Bezeichnend ist, dass nicht mal die, die in der City Nord arbeiten, die genaue Zahl der Wohnungen kennen. Der Buchhändler Hanjo Bergmann, der bis vor anderthalb Jahren ein Geschäft in der Bürostadt betrieb und heute von einem Versandhandel für Literatur lebt, hält 300 Wohnungen für »weit übertrieben«, Sylvia Soggia von der Interessengemeinschaft der Grundeigentümer (GIG) nennt die Zahl 120, andere zucken nur ratlos mit den Schultern.

Eines weiß Bergmann aber ganz sicher: »Ein Chinese hat vor einiger Zeit viele Wohnungen aus einer Konkursmasse gekauft – für seine Verwandtschaft.« 15 000 Euro soll eine Zweizimmerwohnung gekostet haben – für die citynahe Lage ein Witz. Bergmann ist auch ein Opfer des pleitegegangenen Investors Philip Bernklau, dem der Buchladen gehörte: »Sein Insolvenzverwalter hat mich einfach rausgeschmissen.«

Warum, weiß Bergmann nicht. Seit Anfang 2006 sucht er einen neuen Laden im Kernbereich der Bürostadt. Doch obwohl an nahezu jeder Ecke Schilder mit der Aufschrift »Laden zu vermieten« zu sehen sind, findet er keinen: »Die wollen einfach zu viel Geld haben.« Selbst die fünf Euro Kaltmiete pro Quadratmeter, die Greve, der größte Grundbesitzer vor Ort, verlangt, rechnen sich für Bergmann nicht: »Zu teuer, so viel wirft Literatur nicht ab.« Die Eigentümer ließen die Räume oft lieber leer stehen, als sie für kleine Münze zu vermieten.

Ein Umstand, der den Schriftsteller Peter Schütt, der am benachbarten Wesselyring lebt, in Rage bringt: »Und dann reden Leute wie Greve immer davon, Kultur in die City Nord bringen zu wollen.« Das sei ein krasser Widerspruch zwischen Wort und Tat, ärgert sich Schütt. Auch Edith Meyer-Scheel, die Inhaberin der Apotheke City Nord kritisiert das mangelhafte Entgegenkommen der Eigentümer: »Die müssten sich doch bemühen, kleine Gewerbetreibende zu gewinnen.« Interessenten seien genügend vorhanden, sagt die Apothekerin, aber es passiere nichts. Die Folge: Die Infrastruktur bricht langsam zusammen – bis auf die Gastronomie, die mehrere Tausend Angestellte zu versorgen hat. So richtig etwas los ist in Läden wie dem Coffe Fresh im Mexikoring 25 nur um die Mittagszeit. Dann begrüßt Tina Sayd, die seit fünf Jahren von 7 bis 15.30 Uhr geöffnet hat, die meisten ihrer Gäste: Angestellte aus den umliegenden Büros, ein paar Architektur-Studenten von der HAW und Schüler von der Handelsschule. Längere Öffnungszeiten lohnten sich nicht, seufzt die gebürtige Afghanin: »Denn ab dem Nachmittag ist die City Nord tot.« Deshalb schließt die wenige Schritte entfernte Filiale der Drogeriekette Schlecker um 18 Uhr, im Winter zwei Stunden früher.

Die Verödung des Kernbereichs zwischen Übersee- und Mexikoring schreitet voran – daran ändern auch die von der Stadt ausgelobten, aber folgenlos gebliebenen Ideenwettbewerbe nichts. »Ab und zu eröffnet höchstens mal ein Copyshop, der nach einigen Monaten wieder verschwindet«, sagt Peter Schütt. »Es ist schlimm«, pflichtet Meyer-Scheel bei, viele kleine Läden hätten in letzter Zeit geschlossen: der Schuster, das Reisebüro, das Blumengeschäft, der Buchladen. Die Apothekerin hat die Hauptschuldigen ausgemacht: »Der Insolvenzverwalter von Bernklau lässt alles verkommen. Auch Greve macht hier nichts mehr. Wenn Mieter ausziehen, lässt er nicht mehr renovieren.«

Diesem Vorwurf widerspricht Ralph Ulrich Knist von der Vermögensverwaltung Prof. Helmut Greve vehement. »Im Gegensatz zu anderen Eigentümern hat das Haus Greve allein in den vergangenen Jahren rund fünf Millionen Euro in den Gebäudebestand investiert«, lässt Knist schriftlich mitteilen. Teilbereiche seien mit neuen Fassadenverkleidungen versehen worden, am Hochhaus Mexikoring 33 sind Eingangsbereiche, Aufzüge und Treppenhäuser neu gestaltet worden. Deshalb sei es Greve, dem in der City Nord 100 000 Quadratmeter Geschossfläche und weite Teile im Kernbereich gehören, auch gelungen, internationale Konzerne und große Gesellschaften als Mieter zu halten.

Derweil bemüht sich die Grundeigentümer-Interessengemeinschaft (GIG), der Greve nicht angehört, das Image der seelenlosen Betonwüste aufzupolieren. »Das Bild ist leider stark in den Köpfen der Hamburger verankert«, beklagt Pressesprecherin Sylvia Soggia. Unter anderem bietet die GIG Architekturführungen an, um das verkrustete Denken aufzubrechen. Soggia: »Jedes Mal ist die Resonanz: So habe ich die City Nord noch gar nicht gesehen oder wahrgenommen.« Die GIG versucht außerdem, mit Kultur- und Sportveranstaltungen Menschen in die City Nord zu locken. »Okay, die Architektur ist eine Geschichte der siebziger Jahre«, sagt die 38-Jährige, »aber damals war sie revolutionär, grandios.«

Das fand auch die Schauspielerin Inge Meysel, die es Anfang der 1970er hip fand, sich am Mexikoring in einer der wabenartigen Wohnungen einzuquartieren. Sie nutzte die Immobilie als Zweitwohnung, um von dort aus in die umliegenden Filmstudios zu kommen. Heute sorgen nur noch die Studenten der Hochschule für bildende Künste, die am Mexikoring über Atelierräume verfügen, für künstlerisches Flair. Da helfen auch Projekte wie der von der GIG organisierte Skulpturenpark nicht. Die Open-Air-Ausstellung stieß zwar in der nationalen wie internationalen Presse auf gute Resonanz, wie Sylvia Soggia stolz erzählt – nur hat sich kaum ein Hamburger in die City Nord verirrt, um die Kunstwerke zu bestaunen.

Die Probleme der City Nord sind hausgemacht. Einst als reine Bürostadt konzipiert, hat man eines vergessen: Dass nur Leben in die Bude kommt, wenn Menschen dort wohnen. Vital geht es nur am Rand der City Nord zu. In der SAGA-Siedlung Wesselyring, die Anfang der 1960er Jahre für die Bewohner der Behelfsheime in der dortigen Kleingartensiedung gebaut worden waren, wohnen heute 900 Menschen. Nach der Sanierung der Wohnungen durch die SAGA erblüht der lange vernachlässigte Problemstadtteil. Beherrschten noch Ende der 1990er Jahre Meldungen über Gewaltverbrechen und Vandalismus die Berichterstattung, so sorgen heute Einrichtungen wie das ehemalige Waschhaus für positive Schlagzeilen. Dort rattern heute keine Wachmaschinen mehr, sondern treffen sich junge Leute zur Disko, Senioren zum Nachmittagskaffee, Schüler zum Hausaufgabenmachen. »Das ist hier wie in einem Dorf«, sagt Sozialarbeiterin Margret Wolken-Mahlmann, deren Stelle vom Amt für Jugend finanziert wird. Und der Schriftsteller Peter Schütt hat nach seinem Umzug von Eppendorf in den Wesselyring vor fünf Jahren nicht nur seiner »Werkstatt schreibender Arbeitsloser« ein neues Zuhause geben – er hat auch das erste Buch über Menschen in der City Nord mit angeschoben (siehe Kasten) und organisiert gut besuchte Lesungen von internationalen Autoren.

Das Polyglotte passt zum Wesselyring, obwohl die meisten Menschen dort arm sind. »Fast alle Nationen sind hier vertreten, man fühlt sich beinahe wie in London oder New York«, sagt der Künstler Hans Georg Timm, der 1968 eine Atelierwohnung im Dachgeschoss in der SAGA-Siedlung bezog. Timm bezeichnet den »Ring« als »Weltstadt im Kleinen«, als globales Dorf und freut sich über »Multikulti in der Praxis, nicht in der Theorie«. Bitter: Die Großunternehmen in der unmittelbaren Nachbarschaft geben zwar nicht unerhebliche Beträge für die Imageverbesserung der City Nord aus, für die Schmuddelkinder in der unmittelbaren Nachbarschaft haben sie aber keinen Cent übrig. »Als ich bei verschiedenen Firmen um einen Druckkostenzuschuss für unser Buch oder die Schaltung von Anzeigen bat«, erzählt Peter Schütt, »haben mich die schicken Damen in den Presseabteilungen nur irritiert angeguckt.«

Die City Nord wurde in den 60er Jahren als »Geschäftsstadt« auf einer ehemaligen Schrebergartenkolonie erbaut. Ziel war es, Konzernen einen attraktiven Standort zu bieten. Heute arbeiten in der 117 Hektar großen Bürowelt knapp 30 000 Menschen für 300 Unternehmen. Galt die wegen der Stadtparknähe so genannte »Bürostadt im Grünen« noch in den 70ern als der letzte architektonische Schrei, wurde die Kritik an dem Konzept, das auf strikte Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit setzt, bald immer lauter. Sta

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal