Idylle im Nirgendwo
Ortstermin im thüringischen Gehlberg: Die Flüchtlinge des dortigen Asylbewerberheimes fordern die Schließung ihrer Unterkunft
Als Erstes überfällt den Besucher die Stille. Das ehemalige DDR-Ferienlager hat einen Spielplatz, Holzbänke laden zum Sitzen ein, Gras und Bäume. Doch der Spielplatz liegt verwaist, das Gras steht hoch. Ein schöner Sonnentag im Juni, nur die Vögel lärmen. Elf Familien leben hier, aus Syrien, Aserbaidshan, Palästina, Weißrussland, Pakistan, meist zwei in einem Häuschen, teilen sich Küche und Bad. Am Eingang, wo in einem Container eine strenge Dame mit leicht russischem Akzent wacht, ist der Grund des Besuches zu nennen. »Privatbesuch?« Gründlich wird der Personalausweis gecheckt. Gegenüber eine Weide mit hellbraunen Kühen, der Blick auf Berge und Fichten. Idylle im Thüringer Wald.
Sara und Rachima Magamajeva wollen nur eins: weg hier. Die Wohnung, in der die beiden Frauen mit dem Kleinkind leben, besteht aus zwei Zimmern, einer schmalen Küche, einem Bad mit Dusche und Toilette. Im größeren der beiden Räume eine Schrankwand, die Türen hängen schief. Auf dem Boden grasgrüner Filz, ein Bügeleisen hat einen Abdruck hineingebrannt. Ein Bett, zwei Stühle, ein kleiner Tisch, ein großer Tisch, Holzfenster, einfach verglast. Über einem der beiden Nachtspeicheröfen Spuren eines großen Wasserflecks. An der Außenwand, hinter dem Tisch, auf dem ein großer RFT-Fernseher steht, und hinter der Gardine Stockflecken, die Tapete löst sich an mehreren Stellen.
»Wir werden hier krank«
Schwarzer Schimmel wächst auf der weiß gestrichenen Presspappe unterm Fenster. »Wir werden hier krank«, sagt die jüngere der beiden. »Es ist immer kalt, es regnet, es gibt Spinnen.« Rachima kommt aus Aserbaidshan. Sie wird bald 18, wie sie betont, wirkt schmal und kindlich: große dunkelbraune Augen, glänzendes schwarzes Haar. Doch das Kindliche täuscht. Rachima trägt eine Menge Verantwortung, und sie ist eine Kämpferin. »Wir wollen ja nicht in einer Villa leben«, sagt sie. »Wir wollen in die Stadt.« Lange hat die Familie in Arnstadt gelebt. In Gehlberg gibt es Berge, Wald und im Winter viel Schnee. Nichts für eine 18-Jährige. Sie vergesse ihr Deutsch, sagt Rachima. Die Freundinnen aus der Schulzeit sind weit weg. Gern würde sie einen Abschluss an der Berufsschule machen, am liebsten als Kosmetikerin. Doch sie muss sich um ihren Sohn kümmern. Ihre Mutter kann diese Aufgabe nicht übernehmen. Sie ist schwer depressiv. Das Leben in Gehlberg mache sie krank, sagt sie. Rachima verhandelt mit der Anwältin, die für ihre Mutter den Aufenthaltsstatus erstreiten soll. Die hält sie für ein Kind, glaubt sie. Besucht ihren Freund im Knast, wo er seit zwei Jahren sitzt, weil er sich geweigert hat, sein Herkunftsland anzugeben, damit er nicht abgeschoben werden kann. Kümmert sich um ihre Mutter und ihren Sohn und um den Haushalt, wenn die Mutter im Krankenhaus behandelt wird.
Einmal in der Woche fährt ein Bus ins benachbarte Gräfenroda zum Einkaufen. Einen Discounter gibt es dort nicht. »Drei Euro für ein Kilo Tomaten«, schimpft Rachimas Mutter. Bei diesen Preisen sind die Gutscheine über 126 Euro monatlich pro Erwachsene und 80 Euro für das Kind schnell aufgebraucht. Billiger wäre es bei Aldi in Ilmenau. Doch wie dahin kommen? 40 Euro Taschengeld pro erwachsene Person. Fahrscheine müssen zunächst davon bezahlt werden. Rachima berichtet darüber, wie sie das Leben in Gehlberg erlebt. Den steilen Berg vom Bahnhof zum Heim. Die Familie aus Pakistan, die seit sechs Jahren das Haus nicht verlassen hat.
Die blonde Frau aus Weißrussland bekommt überhaupt kein Taschengeld, sagt sie. Wenn nicht eine Freundin die Zwillinge in die Kita bringen würde, müssten ihre beiden Töchter zu Hause bleiben. Das Kita-Essengeld wird ihr mit den monatlichen Wertgutscheinen verrechnet. So bleiben von 551 Euro für fünf Personen noch 513 Euro übrig. Die junge Mutter klagt über die ärztliche Versorgung, ist mit der Hausärztin im Ort nicht zufrieden, die ihren Kindern schon mal Erwachsenenmedikamente verschrieben habe. Bei Zahnproblemen mache der Zahnarzt zunächst einen Befund. Damit gehe sie zur Ausländerbehörde, die ihr o.k. geben muss. Eine langwierige Angelegenheit. Zumal der Zahnarzt nur einen Zahn pro Quartal saniere, berichtet sie. Auch in ihrer Wohnung Schimmelpilze. Das liege am Lüften, habe man ihr gesagt.
Schimmelpilze in der Wohnung
»Ich bin hergekommen, weil ich ein normales Leben führen wollte«, sagt Wissal Obeid. Weit weg vom Krieg. Im Wohnzimmer der palästinensischen Familie sucht die junge Frau stockend nach deutschen Worten, Rachima unterstützt. Die Fensterritzen sind zum Teil mit Klebeband zugeklebt – gegen den Zug. Es sei sehr kalt und die beiden Kinder seien oft krank, erläutert die Hausherrin auf Nachfrage. Ein normales Leben? Sie beschreibt Schlafstörungen, Migräne und Depressionen. Belastend auch der ungeklärte Aufenthaltsstatus: Für drei Monate wird die Duldung jeweils verlängert. Eine Erwerbstätigkeit ist der Schneiderin und ihrem Mann, der Frisör ist, nicht gestattet. Draußen vor dem Fenster sind kleine Beete mit Gurken, Petersilie und Zwiebeln. »Das sind meine Freunde«, sagt Wissal und lächelt ein bisschen. Jahrelang untätig herumzusitzen, macht die Leute krank, noch dazu, wenn sie irgendwo im Nirgendwo leben müssen und Wege in die Stadt nur mit großem Aufwand zu bewältigen sind. »Die Unterbringung im Heim kann Krankheiten hervorrufen. Das kommt häufig vor«, sagt Rechtsanwältin Mirjam Kruppa, die auch die Magamajevs vertritt. Aggressionen und Depressionen sind die Folge. Dazu kommt noch die Residenzpflicht. Demnach dürfen die Asylbewerber den Landkreis nicht verlassen – auch wenn sie Arbeit haben oder einen Studienplatz
Wie die Flüchtlinge untergebracht werden, regelt bundesweit das Asylbewerberleistungsgesetz. In Thüringen werde das »sehr eng interpretiert«, erläutert Sabine Berninger von der Linksfraktion im Landtag. Demnach sei dem Quartier im Heim Vorrang einzuräumen. Doch bei genauer Abwägung von Kosten und Nutzen könnte die dezentrale Unterbringung für die Kreise sogar günstiger sein. Das machen Städte wie Suhl und Gera vor, die ihre Asylbewerber in städtischen Wohnungen einquartiert haben. Zumal sich die Flüchtlinge in Thüringen immer mehr wehren: erst Katzhütte, jetzt Gehlberg. Beistand leistet die Flüchtlingsorganisation The Voice Refugee Forum. Auch die LINKE hat angekündigt, das Thema in den Kreistag zu bringen. »Wir unterstützen die Forderung nach einer dezentralen Unterbringung«, sagt Sabine Berninger. Im Landratsamt scheint man über die renitenten Flüchtlinge nicht erfreut. Der bauliche Zustand des Asylbewerberheimes sei »soweit in Ordnung«. »Wenn etwas kaputt ist, wird es repariert«, sagt Sozialamtschef Wolfgang Habermann und erläutert: Speziell für Familien und Alleinerziehende sei das Heim ein »betreutes Wohnen«.
LINKE will Thema in den Kreistag bringen
Und schildert die »besondere Unterstützung«: Hilfe bei den Hausaufgaben für die Kinder, Begleitung der Eltern zu den Elternabenden. Die Zusammenarbeit mit der Schule in Gräfenroda sei eng, man bemühe sich zudem, speziell für die Frauen Angebote zu machen: Kino, Schwimmbad, Museen, Wanderungen. Eine Schließung des Heimes ziehe das Amt derzeit nicht in Erwägung, so Habermann weiter. Jedenfalls nicht vor 2009. Bis dahin sei man vertraglich gebunden.
So lange wollen die Bewohner nicht warten. Vor zwei Wochen zogen 30 von ihnen zum Arnstädter Landratsamt und versuchten, mit Plakaten und Reden Aufmerksamkeit zu erringen. Vor allem Frauen ergriffen das Wort: auch Wissal und Rachima. Sie forderten, das Lager zu schließen und die Bewohner in Städten dezentral unterzubringen. Am 24. Juni wollen sie erneut vorm Landratsamt in Ilmenau demonstrieren. In Arnstadt stehen viele Wohnungen leer und die kommunale Wohnungsbaugesellschaft würde Mieter wie die Magamajevs oder die Obeids vielleicht mit offenen Armen empfangen.
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