Die Namen der KZ-Häftlinge

Karteikarten des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes entschlüsselt

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 3 Min.
Opfern des Faschismus ihren Namen wiederzugeben hat auch eine humanitäre Dimension. Eine KZ-Häftlingskartei wird von Forschern aufgearbeitet.

Die Gestapo verhaftete Friedrich H. und wies ihn 1944 ins KZ Sachsenhausen ein. Der Landarbeiter war angeblich arbeitsscheu und musste fortan in einem Kommando des Außenlagers Brandenburg schuften. Am 5. November 1944 ermordete die SS Friedrich H. im KZ Neuengamme. Das weiß man jetzt, weil eine Karteikarte mit seiner Häftlingsnummer auftauchte, die entschlüsselt werden konnte. Das ist kein Einzelfall. Über die Entschlüsselung zehntausender Karteikarten berichtete Günter Morsch, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

Historiker wurden Ende der 1990er Jahre auf über 100 000 Karteikarten aufmerksam, die im Bundesarchiv in Dahlwitz-Hoppegarten lagern. Es handelt sich um Material aus dem Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS. Auf den Karteikarten sind neben der Häftlingsnummer Berufe und Fähigkeiten von KZ-Insassen aus diversen Lagern vermerkt. Die Namen fehlen. Weitere 50 000 Karteikarten fanden sich in Archiven des Roten Kreuzes in Warschau und in den Museen in Auschwitz-Birkenau und Stutthof.

Durch den Abgleich mit anderen Dokumenten konnten bis Ende August 77 Prozent der Karten Namen zugeordnet werden. Die Entschlüsselungsversuche sollen Ende des Jahres abgeschlossen sein. Projektkoordinator Christian Römmer glaubt, dass eine Aufklärungsquote zwischen 80 und 90 Prozent erreicht werden kann. Vollständige Klarheit sei nicht möglich, da die SS kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs viele Akten vernichtete.

An dem fast vollendeten Vorhaben sind 14 KZ-Gedenkstätten in Deutschland, Österreich, Polen und den Niederlanden beteiligt. Darüber hinaus machen 17 Archive und Institutionen in diesen Staaten, aber auch in Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Norwegen und Spanien mit. Ziel ist es, Schicksale von Häftlingen aufzuklären. Vorher kannte die Gedenkstätte Sachsenhausen die Namen von 40 Prozent der Häftlinge dort, erläutert Direktor Morsch. Nun seien es 60 Prozent. Er nannte als Beispiel Häftlinge aus dem KZ Dachau, auf deren Karteikarten vermerkt steht, dass sie vorher in Sachsenhausen waren.

Die Entschlüsselung sei nicht nur für die Forschung wichtig, meint Reto Meister. Er leitet den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, der mit seinem Wissen geholfen hat. Den Opfern wieder ihren Namen zu geben, das habe auch eine humanitäre Dimension.

Die Idee, die Karteikarten anzulegen, reifte seinerzeit in der Inspektion der Konzentrationslager in Sachsenhausen und dort in dem von Obersturmbannführer Gerhard Maurer geführten Amt D II, das für den Arbeitseinsatz der Häftlinge zuständig war. Rüstungsminister Albert Speer wollte die Ausbeutung der Häftlinge effektivieren. Die SS ließ die Kartei ab Sommer 1944 anlegen. Der letzte bekannte Eintrag stammt vom 7. Februar 1945. Die Angaben auf den Karteikarten sollten auf Lochkarten übertragen werden. Mit einem nach dem Erfinder Herman Hollerith benannten maschinellen System hätte man dann schnell ermitteln können, welcher Häftling über bestimmte Qualifikationen verfügt. Dementsprechend wäre er einzusetzen gewesen. Es ist nicht bekannt, ob die SS jemals eine einsetzbare Hollerith-Kartei zuwege brachte. Einiges deutet darauf hin, dass der Versuch einer Lochkarten-Kartei nach wenigen Monaten aufgegeben wurde. Die exakt 148 782 gefundenen Karteikarten sind nur ein Bruchteil dessen, was es gegeben haben muss. Zum Zeitpunkt der Erstellung gab es nämlich über 500 000 Häftlinge in den Konzentrationslagern.

Einer von ihnen war der Schauspieler Erwin Geschonneck (1906-2008). Der 1938 in Prag verhaftete Kommunist kam im März 1940 vom KZ Sachsenhausen ins KZ Dachau, wo er die Häftlingsnummer 1888 erhielt.

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