Das »Worpswede« auf den 61. Breitengrad

Balestrand am norwegischen Sognefjord zieht seit rund 150 Jahren Künster und Touristen an

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 4 Min.
Wer im historischen Teil vom Hotel Kvikne wohnt, hat einen traumhaften Blick auf den Sognefjord.
Wer im historischen Teil vom Hotel Kvikne wohnt, hat einen traumhaften Blick auf den Sognefjord.

Das Nordland-Virus ist extrem ansteckend, seine Inkubationszeit beträgt in der Regel nur wenige Tage. Und glaubt man Apo Schamp, gibt es weder ein Mittel dagegen noch Heilung. Er selbst trägt das Virus seit Jahrzehnten in sich, hat alles versucht, davon loszukommen, selbst eine Überwinterung in monatelanger Dunkelheit half nichts. Vor zwölf Jahren gab der jetzt 75-Jährige den Kampf auf. Er brach im Ruhrgebiet, wo er als Lehrer für gehörlose Kinder gearbeitet hat, alle Zelte ab und zog mit seiner gleichfalls infizierten Heidi für immer ins norwegische Balestrand auf den 61. Breitengrad. Seitdem haben beider Seelen Ruhe gefunden, eine Ruhe, die sie samt des Virus' auf fast jeden übertragen, der mit ihnen in Berührung kommt.

Das sind vor allem Deutsche, denn Apo Schamp ist seit 2002 offizieller Ortsführer für deutsche Gruppen in Balestrand. Hier am Sognefjord – dem mit 204 Kilometer Länge und bis zu 1308 Meter Tiefe längsten Fjord Europas – begann Anfang des 19. Jahrhundertes der norwegische Tourismus. Englische Lords waren die ersten Ausländer, die die reizvolle Landschaft, die Berge um und den Fischreichtum im Sognefjords für sich entdeckten.

Das und das ungewöhnlich milde Klima, wo Apfelbäume prächtig gedeihen, zog schnell auch viele Künstler an, insbesondere Maler und Schriftsteller. Viele von ihnen bauten sich am Ufer des Sognefjord schon bald prachtvolle Villen im Schweizer Stil. Mit ihren Veranden, verspielten Türmchen und üppigen Schnitzereien verströmen sie bis heute den Charme der Belle Epoque.

Eindrucksvollster Zeuge aus dieser Zeit ist das 1877 erbaute Kvikne's Hotel. Direkt am Fjord gelegen, ist das ganz aus Holz errichtete, reich verzierte 80 Meter lange weiße »Schweizerhaus« das erste, was die Reisenden sehen, wenn sie sich mit dem Schiff Balestrand nähern. (Der hässliche Betonanbau aus den 1960er Jahren schiebt sich zum Glück erst später ins Blickfeld.) Seit vier Generationen wird das Hotel von der Familie Kvikne geführt. Neben vielen Kunstschätzen und Antiquitäten zeigen die Hausherren ihren Gästen auch gern ein kurioses Möbelstück: Den Stuhl, auf dem Kaiser Wilhelm II., der jahrelang den Sommer in Balestrand verbrachte, vom Attentat von Sarajewo erfahren haben soll, das zum Auslöser des Ersten Weltkriegs wurde.

Bei einem Spaziergang durch das »Worpswede« des Nordens, wie Apo den idyllischen Ort nennt, stolpert man überall über historische Spuren und hört Erstaunliches aus der Gegenwart. Sehenswert ist beispielsweise die hölzerne Stabkirche St. Olaf, die der Hotelahne Knut Kvikne 1897 in Erinnerung an seine verstorbene englische Frau bauen ließ, die elf Jahre zuvor als Touristin kam und aus Liebe blieb.

Wie ihr ging es seitdem vielen, denn die heute rund 1000 Einwohner von Balestrand gehören 22 Nationen an. Wie Apo aus eigener Erfahrung weiß, wird es Zuzüglern hier auch leicht gemacht, Fuß zu fassen. Nicht nur, dass die Norweger keinerlei Vorbehalte gegenüber Fremden haben, der Staat unterstützt die Integration auch mit umfangreichen kostenlosen Sprachkursen. Und Nachbarschaftshilfe nimmt hier zuweilen sogar ganz besondere Formen an. Weil Apo Schamp einem Norweger half, dessen komplett rollstuhlgerechten Ferienhäuser in Deutschland zu vermarkten, überlies der ihm kostenlos Grund und Boden, damit sich der Zuzügler hier ein eigenes Haus bauen konnte. Mit dem Ergebnis, dass sich Apos Sohn Hendrick, der bei Bau half, ebenfalls den Nordland-Virus einfing und, wie seine Eltern, in Balestrand inzwischen Wurzeln geschlagen hat.

Wer allerdings jeden Abend Aktion braucht, dem sei dringend von dem Ort abgeraten. Denn hier schraubt das Leben eher zwei Gänge zurück. Auch dazu weiß Apo ein Beispiel: Nach dem Motto: Nur nicht hetzen, der Tag hat 24 Stunden, antwortete der Chef eines Baumarktes auf die Frage, wann er denn am nächsten Tag seinen Laden aufmache: »Das hängt davon ab, wann ich aufstehe.« Was anderswo zu einer handfesten Diskussion führen würde, scheint in Balestrand völlig normal zu sein und ist vielleicht auch die Antwort darauf, warum – rein statistisch gesehen – hier landesweit die meisten über 90-Jährigen leben.

Die Mehrzahl der Urlauber kommt im Sommer – zum Bergsteigen, Wandern, Bootfahren und Angeln. Aber, so Apo, manche lassen sich auch von den langen dunklen Wintermonaten nicht abhalten. Häufig Künstler, die genau zu dieser Zeit hier Ruhe suchen und finden, um ungestört zu arbeiten. Auch von denen sollen schon einige vom Nordland-Virus befallen sein.

  • Infos: Innovation Norway / Norwegisches Fremdenverkehrsamt, Postfach 11 33 17, 20433 Hamburg, Tel.: (01805) 00 15 48 (14 Cent/Min.), Fax: (040) 22 94 15 88, www.visitnorway.de
  • Infos zu behindertengerechte Ferienhäusern: Apo G. Schamp, Tosnes 5, N-6899 Balestrand, Tel.: (0047) 57 11 03 57, Fax: (0047) 97 10 92 59, E-Mail: aposchamp@hotmail.com, www.norwegenhaeuser.de
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