Eine Insel voller Mangas

Elf Menschen leben auf der Insel Takaikamishima im Süden Japans. Mit bunten Wandbildern will man Besucher und neue Bewohner anlocken

  • Felix Lill, Takaikamishima
  • Lesedauer: 5 Min.
Nahe der Anlegestelle am Hafen: Sadamu Kimura (l.) und Masanori Baba
Nahe der Anlegestelle am Hafen: Sadamu Kimura (l.) und Masanori Baba

Vom Festland kommend legt die kleine Fähre zuerst bei einer Handvoll größerer Inseln an, die noch viel von dem haben, was Zivilisation ausmacht: Geschäfte, Geräusche, Menschen. Als das Motorboot dann in Takaikamishima andockt, ist sofort klar: Hier ist das Leben, oder was davon übrig ist, anders. Gähnende Ruhe, gleichzeitig aber so viel Farbe. An den Fassaden prangen Wandmalereien: ein Mann im weißen Kittel, daneben eine Pflegerin in rosa Uniform. Freundlich schauen die zwei drein, wie Beschützer.

In Japan erkennt das Bild jedes Kind. Es stammt aus dem Manga »Dr. Koto Shinryoujo«, auf Deutsch: »Dr. Kotos Praxis«, und erzählt die Geschichte eines Arztes, der eine Tokioter Universitätsklinik verlässt, um auf einer Insel mit schrumpfender Einwohnerschaft die Grundversorgung zu sichern. In dem ostasiatischen Land, wo die Bevölkerungszahl schon lange zurückgeht, traf diese Heldenstory in den Nullerjahren einen Nerv, bald kamen ein Anime und ein Spielfilm heraus. Nun thront die Story an der Fassade des alten Gemeindehauses, als eine Art offizielles Narrativ dieser Insel.

»Die Story vom Doktor passt doch perfekt zu uns«, sagt Sadamu Kimura, ein mit einem großen Hund herantapsender Herr in T-Shirt und Jogginghose. »Hier leben ja auch kaum noch Menschen.« Dabei wirkt Takaikamishima auf den ersten Blick selten lebendig. Jenseits der fünf Meter hohen Zeichnung des Dr. Koto finden sich hier überall weitere Referenzen aus der in Japan extrem beliebten Welt von Anime und Manga, also Zeichentrick und Comic.

An der Front eines Gebäudes direkt am Ufer prangt Kaiji, der Protagonist aus dem Manga »Tobaku Mokushiroku Kaiji«, einer Story über einen von Kredithaien ruinierten Spielsüchtigen im Tokio der 90er Jahre. Wenige Häuser weiter wartet »Machiko-sensei«, die Lehrerin der gleichnamigen Geschichte aus den 80ern, die mit kurzen Röcken ihren Schülern den Kopf verdreht. Und noch ungefähr 30 andere Wandmalereien, die aus irgendeinem beliebten Werk stammen. Takaikamishima ist so etwas wie die Manga-Open-Air-Galerie Japans. Was ist hier los?

Es ist eine Flucht nach vorn. Auf Takaikamishima gibt es mittlerweile mehr leerstehende Häuser mit bunten Gemälden als lebende Menschen. Die Einwohnerzahl liegt mittlerweile bei elf, in den 50ern waren es noch 300. »Fast alle hier sind schon über 70«, erklärt Sadamu Kimura, während sein Hund gemächlich um sein Herrchen kreist, sich dem Tempo hier offenbar anpassend. Kimura stottert: »Es kann gut sein, dass unsere Gemeinde bald ausstirbt, wenn wir nichts dagegen tun.«

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Aber getan wird so einiges. Takaikamishima, diese kleine Insel mit einer Fläche von nur 1,34 Quadratkilometern – ungefähr 20 Kilometer von Japans Festland entfernt, offiziell mit dem Status einer »entlegenen Insel« – ist seit Kurzem nicht mehr nur bekannt als vom menschlichen Aussterben bedrohtes Stück Land. Zumindest in ganz Japan hat Takaikamishima seit Kurzem auch einen Namen als Gemeinde, die genau dieser Bedrohung auf kreative Weise trotzt.

»Eine kleine Insel in der Präfektur Ehime hat große Träume«, titelte »Asahi Shimbun«, Japans zweitgrößte Zeitung, über einem Text im Mai. Die im Land führende Nachrichtenagentur Kyodo beobachtete zuletzt: »Ein Wiederbelebungsprojekt ist im Gange.« Und die Zeitung »Mainichi Shimbun« schwärmte im Juni in einem Artikel mit der Überschrift: »Abgelegene japanische Insel mit elf Einwohnern will zum globalen Manga-Zentrum werden.« Nichts Geringeres ist hier tatsächlich geplant.

Takaikamishima könnte mit seinem Konzept bald zum Vorbild für andere schrumpfende Kommunen werden. »Wir hatten zuletzt nämlich sogar ein paar Zuzüge«, sagt Sadamu Kimura und biegt mit seinem Hund in eine links und rechts mit Mangas bemalte Gasse ein, eine Steigung herauf zu einem renovierten Haus. »Hier wohnt Herr Baba. Er ist mit seiner Frau und zwei Töchtern hergezogen. Wir haben jetzt wieder Kinder im Ort! Und einen echten Macher!«

Auf Masanori Baba, 50 Jahre, agiler Typ in legerer Kleidung, ruhen nun große Hoffnungen. Denn dieser Zugezogene soll das nächste Projekt umsetzen. »Wir haben im April unsere Mangaschule gegründet«, sagt der hier noch sehr junge Mann, nicht ohne Stolz. »Ich manage den Ablauf: die Bewerbungen, die Organisation der Räumlichkeiten, die Kasse.« Das Ganze laufe gerade erst an, aber es könnte, so jedenfalls das Ziel, diese Insel verändern. Nicht nur ästhetisch, sondern auch finanziell und demografisch.

Tipps
  • Lage: Insel in der Präfektur Ehime im Nordwesten der Insel Shikoku im Seto-Binnenmeer.
  • Anreise: Mit Bahn oder Bus nach Uwajima (Shikoku), von dort mit Boot oder Fähre über Zwischeninseln. Fahrplänebei Uwajima City (www.city.uwajima.ehime.jp).
  • Weitere Ziele in Ehime: Dōgo Onsen in Matsuyama, älteste Thermalquelle Japan (www.visitehimejapan.com)

    Von April bis Juli fanden hier sechsmal zweitägige Wochenendkurse statt, die erfolgreichen Bewerber*innen beibringen, was ein gutes Manga ausmacht und wie man es zu Papier bringt: vom Storytelling über das Zeichnen der Charaktere bis zu den Sprechblasendialogen. 80 000 Yen (rund 450 Euro) kostet der Kurs inklusive Kost und Logis. »Wenn es gut läuft, bringen wir eines Tages große Mangaka hervor«, sagt Masanori Baba und geht von seinem Haus die Steigung hinauf. Mangaka ist die Bezeichnung für Mangazeichner.

    Keine zwei Minuten später erreicht er ein altes Schulgebäude, rund 100 Jahre alt, mit einem verwilderten Vorgarten, Holzboden und jahrzehntealten Stundenplänen an der Wand. Die Grundschule, die dieser Bau einst war, schloss vor vielen Jahren, als das letzte Kind ausgeschult wurde. »Ich habe das jetzt alles wieder hergerichtet«, sagt Baba, führt durch drei verschiedene Räume der kleinen Schule. Hier ein Klassenzimmer mit geputzter Tafel, nebenan eine kleine Manga-Bibliothek mit Postern an der Wand. »Wir hoffen, dass sich mit der Schule auch die Bevölkerung von Takaikamishima wieder vergrößert.«

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