Vatermord

Yasmine Ghata und die Seele einer Târ

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Târ – eine gezupfte Langhalslaute – wird vor allem in Iran, Aserbaidshan, Armenien und Turkmenistan gespielt. Yasmine Ghatas Mutter war eine berühmte libanesische Schriftstellerin. Sie selbst wurde 1975 in Frankreich geboren und führte mit ihrem ersten Roman, »Die Nacht der Kalligraphen« (ebenfalls bei Ammann erschienen) zur Großmutter väterlicherseits nach Istanbul. Ihren neuen Roman hat sie der Mutter gewidmet. Spielt er in Libanon? Oder ist es ein fiktives islamisches Land, in dem die Zeit stehen geblieben ist, ein Land, in dem Märchen geschehen? Ist es ein Märchen?

Die Autorin wird es vielleicht weit von sich weisen und bekunden, dass eine Târ tatsächlich eine Seele hat. Der, dem sie gehörte, bleibt mit seinem Instrument verbunden und bestimmt, wer es spielen darf. Wer »Die Nacht der Kalligraphen« gelesen hat, wird sich erinnern: Auch dort war eine Schreibfeder nicht bloß eine Feder. Der verstorbene Kalligraph, der sie der Großmutter vererbte, konnte durch sie noch Wunder tun. Und es geschieht sogar, dass er selbst als Geist durchs Zimmer schwebt.

Hier nun gespenstert der verstorbene Vater Weißbart durchs Haus. Es hat Gründe, dass seine Witwe auf sein Flehen nicht reagiert. Es hat Gründe, dass sein ältester Sohn Hussein, der die Târ erbte, deren Saiten verbrennt, auch wenn er es nur aus einer Eingebung heraus tut. Die Mutter weiß mehr als er und schickt Hussein mit dem jüngeren Bruder Nur in einen entfernten Ort, wo einst ein legendärer blinder Târ-Spieler wohnte und wo man Husseins Târ neue Saiten geben kann. Allein Nur wird zu ihr zurückkehren. Hussein wird erst ein Gefangener, dann ein Heiliger sein. Erblindet, wird er das schönste Mädchen weit und breit zur Frau bekommen.

Und das alles geschieht wie von höherer Macht gelenkt. Das ist es, was uns die Geschichte so märchenhaft erscheinen lässt. Aber für die Beteiligten ist es eine Selbstverständlichkeit. Ebenso wie in den Kalligraphien kann auch im Târ-Spiel der Geist des Allerhöchsten sein. Oder auch nicht. Der »Blick Gottes« sieht, wie ein Mensch sich verhält. Unrecht bestraft sich selbst.

Aber es ist eine junge Französin, die das Buch geschrieben hat. Eine, die wohl islamische Kunst studierte, offen ist für alles, was sie ins Weite führt – die unbegrenzten Möglichkeiten eines Lebens nach dem Tode gefallen ihr –, aber nichts akzeptieren würde, was sie einschränkt. Deshalb ihr Votum für weibliche Kraft in »Die Nacht der Kalligraphen« und ihre strikte Ablehnung männlicher Tyrannei in diesem Buch. Bis hin zum Vatermord – denn wenn Nur die Târ seines Vaters am Ende verbrennt, ist es im magischen Sinne ein solcher.

Menschen, die noch dort wohnen, wo Yasmine Ghatas Vorfahren herkommen, werden das Buch anders lesen als unsereins, der darin Sehnsüchte nach Ganzheit gespiegelt findet. Aber Yasmine Ghata schreibt ja auch für Westeuropäer, für die das Gefällige ihrer Texte ein Gegengewicht ist zu den Nachrichten von Gewalt und Bedrohung, die aus den Ländern der Târ täglich zu uns dringen.

Yasmine Ghata: Die Târ meines Vaters. Roman. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Ammann Verlag. 124 S., geb., 17,95 €.

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