»Sie sind einfach in die Tiefe gestürzt«

Nach dem Hurrikan wird in El Salvador Kritik am Raubbau an der Natur und der verfehlten Politik der lange regierenden Arena laut

  • Kathrin Zeiske, San Salvador
  • Lesedauer: 7 Min.
Der Hurrikan Ida hat Tod und Zerstörung über die Menschen in El Salvador gebracht. Nach jüngsten Behördenangaben wurden in den Schlammlawinen und den Fluten angeschwollener Flüsse am vergangenen Wochenende mindestens 152 Menschen getötet. 60 weitere würden noch vermisst.
Ein Bild der Verwüstung bietet sich in den Armenvierteln von San Salvador. Matratzen, Kleidung, Spielsachen und Möbel sind zu großen Haufen in der Mitte der engen Gassen aufgetürmt. Sie sind vom Dreck durchweicht und nicht mehr zu gebrauchen. Der dunkelbraune Schlamm, den die Bewohner des Viertels aus ihren Häusern schaufeln, stinkt faulig. Ein junger Mann hält ein kleines Kätzchen auf dem Arm. Das niedrige Haus, vor dem er steht, ist wie ausgehöhlt. Die Rückwand fehlt. Dahinter blickt man auf einen Steilhang und, tief unten, den Fluss Acelhuate. Vor Tagen stand dieser des Nachts plötzlich im Haus. »Gut, dass wir aufgewacht sind«, murmelt der Junge vor der Tür und streichelt die maunzende Katze.

Teil der Katastrophe ist hausgemacht

»Wieder einmal zeigt sich, wie verletzlich unsere Bevölkerung gegenüber Naturereignissen wie diesem ist«, konstatiert Santiago Domínguez von der Ständigen Arbeitsgruppe für Risikomanagement in El Salvador, einem Netzwerk, dem 23 Organisationen angehören. »Der Hurrikan Ida hat uns mehr Todesopfer beschert als der Hurrikan Stan im Jahr 2005. Diesmal fiel innerhalb von drei, vier Stunden eine vergleichbare Wassermenge wie damals in fünf Tagen.«

Dieses Jahr war es zunächst sehr ruhig gewesen in der Karibik und im Golf von Mexiko, wo sich normalerweise jedes Jahr im September und Oktober heftige Wirbelstürme aufbauen und auf die Küsten zurasen. Wirbelstürme und die durch sie ausgelösten Regenfälle sind allerdings an sich noch keine Katastrophe und müssen auch nicht zu einer solchen werden. Dies geschieht erst, wenn sie auf menschengemachte Bedingungen stoßen, die sie eine zerstörerische Wirkung entfalten lassen.

Das kleine zentralamerikanische Land El Salvador macht der augenscheinliche Raubbau an der Natur extrem anfällig für Naturkatastrophen. In den vergangenen 20 Jahren hat die ultrarechte National-Republikanische Allianz (Arena) das Land regiert und eine extensive infrastrukturelle Erschließung im Rahmen neoliberaler Großprojekte wie des Plans Puebla Panamá betrieben. Erst diesen März wechselte die Regierung nach zwei Jahrzehnten, und Mauricio Funes übernahm mit der aus der Guerilla hervorgegangenen Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) die Regierung.

Die Arbeitsgruppe für Risikomanagement hatte in den vergangenen Jahren immer wieder Gesetzesvorschläge eingereicht, die einer Katastrophenprävention dienlich wären: zur Bauordnung, zur Trinkwasserversorgung, zum Recht auf Wasser. »Doch diese sind von der Arena-Regierung nie ernst genommen worden«, erklärt Santiago Domínguez. »Jetzt hegen wir natürlich neue Hoffnungen mit der FMLN in der Regierung. Wir hoffen, dass wir als Umweltorganisationen und letztendlich als soziale Bewegung angehört werden und diese Gesetzesvorschläge endlich zur Diskussion gestellt werden.«

Das ökologische Gleichgewicht im Land steht auf der Kippe. Viele Berghänge wurden abgeholzt; so wie die Balsambergkette, deren Berghänge im Jahr 2001 bei einem Erdbeben auf Santa Tecla, eine Satellitenstadt von San Salvador, herunterbrachen. Bei ausreichender Gewinnspanne wurde unter Arena in Risikogebieten und ebenso in für die Versickerung von Regenwasser wichtigen Gebieten einfach gebaut. So entstand südlich von San Salvador ein gigantisches Einkaufszentrum mitten in einem Naturschutzgebiet.

»El Salvador ist ein zu kleines Land, als dass man vor den Folgen von Umweltzerstörung einfach in andere Regionen ausweichen könnte«, sagt Anne Hild, die für Oxfam Belgien in der Katastrophenprävention tätig ist. »Umweltschutz ist hier überlebenswichtig.«

Betroffen sind stets die Ärmsten der Armen

Beim Hurrikan Ida war nun neben vorwiegend ländlichen Regionen auch erstmals die Hauptstadt San Salvador verstärkt betroffen, die sich über den Hang des Vulkans Picacho erstreckt. In unzähligen Schluchten und Klüften können sich Wasser und Schlammmassen gefährlich beschleunigen und in die unteren Stadtviertel hinab- schießen. »Betroffen sind stets die Ärmsten der Armen: die, die in den einkommensschwächsten und auch gleichzeitig durch ihre Lage und Bauweise gefährdeten Vierteln wohnen, an Steilhängen und Flussläufen, in Holz- oder Wellblechhütten«, erklärt Pilar Serrano von dem lokalen Oxfam-Partner Procomes, einer Nichtregierungsorganisation (NRO), die zur Katastrophenprävention gebildete Stadtteilkomitees ausbildet und betreut. In vielen Vierteln haben diese Komitees nun ganze Arbeit geleistet: Dort waren nur ganz vereinzelt menschliche Verluste zu beklagen.

»In Zentralamerika haben Technisches Hilfswerk und Feuerwehr eine so geringe personelle Besetzung, dass davon ausgegangen werden muss, dass die Bewohner von Risikozonen zur Stunde einer Katastrophe auf sich gestellt sind«, erklärt Hild. »Die Bildung von Stadtteilkomitees, die schon vorab Risikozonen und Fluchtwege in ihren Vierteln ausmachen und aufzeigen und im Notfall die Evakuierung der Bevölkerung vornehmen, ist deshalb unerlässlich.«

In San Martín Privada im 6. Distrikt der Hauptstadt machen sich Pilar Serrano und Anne Hild ein Bild von der Zerstörung. Wilma vom Stadtteilkomitee empfängt sie in ihrer grell-orangen Weste und leitet sie durch labyrinthhaft verwinkelte Gassen und über steile Treppen herab zu einer alten Eisenbahnbrücke. Diese wurde als Fußgängerweg in das Nachbarviertel jenseits der Schlucht genutzt. Bis vor zwei Tagen. Jetzt klaffen nur noch einige Eisenstreben in die Leere über dem reißenden schlammigbraunen Fluss. Links neben der Trasse holen Familien ihr Hab und Gut aus den Häusern, rechts von der Trasse gibt es keine Häuser mehr. »Sie sind einfach in die Tiefe gestürzt«, berichtet Wilma und schüttelt seufzend den Kopf.

Das Stadtteilkomitee ist seit zwei Tagen unablässig im Einsatz. »Sie haben hier alle Leute aus den Häusern geholt, als das Wasser nachts stieg«, sagt eine Anwohnerin mit schlammverkrusteten Füßen anerkennend. In der Mittagssonne versuchen die Anwohner ihre Besitztümer auf den Treppenstufen zu trocknen. Viele sind es nicht; in San Martín Privada sind ein Fernseher und eine Stereoanlage schon Anzeichen gesellschaftlichen Aufstiegs. An den Wänden der Eckhäuser sind weit oben Schilder angebracht: »Fluchtroute«, »Achtung Steilhang«. Auf dem Boden erkennt man gemalte Hüpfekästchen mit den Symbolen der Präventionskampagne, deren Herz die Komitees in den Vierteln bilden.

Die Stadtteilkomitees haben ihren Teil der Arbeit getan und nun ist der Staat an der Reihe, Hilfe zur Verfügung zu stellen. »Nun muss die Versorgung der obdachlos gewordenen Familien in den Herbergen mit Trinkwasser, Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Medikamenten und Kleidung gewährleistet werden«, erklärt Santiago Domínguez vom NRO-Netzwerk. »Eine umfassende psychologische Betreuung ist jetzt unbedingt von Nöten. Und später der Wiederaufbau von Wohnraum in risikoarmen Gegenden; fern von Flüssen und Abhängen.«

Die Regierung der Hauptstadt, die von Arena gestellt wird, hat bisher jedoch nur Wasser und Lebensmittel in den Herbergen verteilen lassen. Bürgermeister Norman Quijano ließ jedoch öffentlich verlauten, dass »alles unter Kontrolle sei«. In San Martín Privada händigte das Stadtteilkomitee den Regierungsbeamten seine Listen über die Schadensaufstellung und die beherbergten Personen aus. Die Beamten hatten ganz offensichtlich keinen Einblick, welche Verluste es gerade in den ärmsten Vierteln im 5. und 6. Distrikt gegeben hatte.

Seit dem Einzug der Arena-Regierung ins Stadthaus hatten die zivilen Komitees zur Katastrophenprävention weder logistische noch technische Unterstützung erhalten, noch waren sie als Gesprächspartner überhaupt ernst genommen worden. Dabei hatten sie viele Gefahrenquellen frühzeitig erkannt. So berichtet Leticia Ramírez aus San Jacinto im 5. Distrikt von einer Befestigungsmauer, die die Stadt dort bauen ließ. »Wir haben schon immer gesagt, diese Mauer treibt uns doch das Wasser direkt zurück ins Viertel. So ist es jetzt auch gekommen.« Ähnliches berichtet Clemencia Rivas aus dem Wohnblock Brisas 2 im selben Distrikt. Dort wurde wegen groß angelegter Bauarbeiten seit Monaten Erdreich in den Flusslauf geschüttet, was nun zu den verheerenden Überschwemmungen ganzer Straßenzüge führte. »Das Flussbett hätte neu ausgebaggert werden sollen, was in der Verantwortlichkeit der Stadtregierung gelegen hätte. Das ist aber letztendlich nie passiert. Wir sind zwar mit dem Leben davongekommen, doch der Schreck sitzt uns tief in den Knochen.«

Der nächste Hurrikan kommt bestimmt

»Wir fordern, dass die Zivilbevölkerung in Entscheidungsfindungen mit einbezogen wird«, schließt Santiago Domínguez. »Damit die Katastrophenprävention durch die staatlichen Institutionen demokratischer und auch effektiver gestaltet werden kann. Menschenleben zu schützen, muss dabei die oberste Priorität sein.« Am Himmel über San Salvador stehen jetzt nur noch vereinzelte dunkle Wolken, aber der nächste tropische Regenfall kommt bestimmt.

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