Gesagt ist gesagt ..

Der Freitod

  • Lesedauer: 2 Min.
Den Lokführer hat die ganze Rücksichtslosigkeit und krasse Selbstbezogenheit getroffen, welche den Depressiven auszeichnet. Es ist heldenhafter, Kränkungen standzuhalten und unter belastenden Umständen weiterzuleben, als mit sich und ihnen ein für alle Male Schluss zu machen. WOLFGANG SCHMIDBAUER / Neues Deutschland
Bemerkungen im Zusammenhang mit dem Tod des Fußballers Robert Enke. Darf einer wie ich, der seine Ansichten zur Sache doch nur aus Ahnungen keltert, einem ausgewiesenen Psychoanalytiker wie Schmidbauer in dessen Spezialistenwort fuchteln? Aber es sei gefragt: Darf die »Heldenhaftigkeit« eines unbedingten Weiterlebens als Alternative angeführt werden, und das mit einem Vorwurfston wieder den Selbsttötenden – wo es bei einer Depression doch nicht schlechthin um eine seelische Abirrung aus Überforderung oder Schwäche geht, die mit Willen zu steuern wäre, sondern um eine übermächtige organische Krankheit?

Weiterleben ist heldenhafter als Freitod? Dann wäre es auch heldenhafter, den Krebs doch bitte schön zu besiegen, statt sich von ihm zum Tode hin überwältigen zu lassen. Dass ein Weiterleben gegen die Bedrängungen der Existenz mutiger sein soll als der radikalste Ausstieg – wer darf hier überhaupt eine Abwägung vornehmen, ohne dass die Toten selber zu Wort kommen?! Welch eine Zumutung, als Schwerkranker auch noch Held sein zu sollen!

»Es ist heldenhafter, unter belastenden Umständen weiterzuleben.« Wie klänge dieser kalte Satz Schmidbauers in den Ohren Paul Celans oder Jean Amérys oder Paolo Levis? Man muss nicht erst die Kunst befragen, um in jener Hand, die der Mensch an sich legt, ein letztes Vollzugsorgan der abschließenden und möglicherweise höchsten Freiheit zu sehen, die auf Erden möglich ist. Der Homo sapiens ist der große Ungefragte dieser Welt, ein Umstand, der unter allen Lebewesen nur ihm bewusst wird (das Bewusstsein, dieses Geschenk, immer auch als Strafe!), und es gibt Menschen, die anpacken mögen, was sie wollen – sie entrinnen niemals diesem Zustand des Ungefragtwerdens. Sie bleiben Ungerufene, bleiben gezeichnete Kreaturen noch auf der Erfolgsleiter, seien nun ihre Gene oder verhedderte Nervenbahnen oder unglückliche Umstände oder alles zusammen schuld – und plötzlich werden sie Könige der bitterlichen Paradoxie: Sie feiern das Leben, indem sie es sich nehmen, es zu sich nehmen, es jener Welt wegnehmen, die nur immer will, dass wir ihr entsprechen. Wo wir doch ganz anders sein wollen. hds

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