Was wusste Merkel über das Massaker von Kundus?

Arbeitsminister Jung trat wegen einer »Informationspanne« in seinem ehemaligen Verteidigungsministerium zurück – doch es geht um mehr

  • René Heilig
  • Lesedauer: 3 Min.
Das – wie man sagt – politische Berlin bereitete sich gestern auf den Bundespresseball vor. Die Kanzlerin erschien nicht. Sie hatte in dieser Woche auch genügend »Tanz«. Ihr »Partner« war da vor allem Parteifreund Franz Josef Jung, bis gestern um 13.30 Uhr noch Bundesarbeitsminister.

Franz Josef Jung (CDU), Arbeitsminister der schwarz-gelben Koalitionsregierung, hat »nach reiflicher Überlegung« und dem »Grundsatz, dass man wichtige Entscheidungen erst eine Nacht überschläft«, das Handtuch geworfen. Er stellte sein Amt als Bundesminister für Arbeit und Soziales »zur Verfügung«, denn er »übernehme damit die politische Verantwortung für die interne Informationspolitik des Bundesverteidigungsministeriums gegenüber den Ministern bezüglich der Ereignisse vom 4. September in Kundus«.

Die »Ereignisse« in Kundus, das ist der von einem deutschen Oberst befohlene Luftangriff in der Nähe der afghanischen Stadt Kundus, der auch nach den »Rules of Engagement«, also den Einsatzgrundlagen der Bundeswehr im Afghanistan-Krieg unzulässig war. Über 140 Menschen, darunter Kinder und Jugendliche, die weder als Person noch als »Aufständische« identifizierbar sind, waren dabei umgebracht worden.

Jung verteidigte den Einsatz und behauptete noch lange nachdem das deutsche Militär andere Erkenntnisse berichtet hatte, dass man »nur« Taliban getötet habe.

»Ich habe sowohl die Öffentlichkeit als auch das Parlament über meinen Kenntnisstand korrekt unterrichtet«, sagte er noch gestern.

Seltsam. Selbst seinem Nachfolger im Verteidigungsressort, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), wurden neun Berichte und Einschätzungen zu dem Luftangriff vorenthalten. Das jedenfalls erklärte er am Freitag bei der Sondersitzung des Verteidigungsausschusses und versprach eine mögliche Neubewertung seiner Einschätzung des Bombardements.

Um ihn dabei zu unterstützen, forderten vor allem die Vertreter der Linksfraktion die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Sie wurden von den Grünen unterstützt. Die SPD, die am Vortage lauthals danach gerufen hatte, klang verhaltener. Dabei könnte der Ausschuss – so der Untersuchungsauftrag nicht wieder beschnitten wird – einiges zutage fördern. Jedenfalls dann, wenn die Abgeordneten zu ergründen versuchen, was die Kanzlerin wann über den Vorfall wusste, der – so hohe deutsche Militärs – die Bundeswehr in Afghanistan die »Unschuld« gekostet hat.

Das Bombardement muss »Chefsache« gewesen sein. Denn der Angriff führte zu harschen Reaktionen der NATO-Befehlshaber. Sie sahen die neue, von US-Präsident Obama vorgegebene »Schmusestrategie« gefährdet. Schon am 4. September sprachen ISAF-Sprecher und der kanadische General Tremblay über zivile Opfer in nahen Krankenhäusern. Und da das Presseamt der Kanzlerin jeden Morgen die wichtigsten Meldungen der internationalen Medien vorlegt, müssten Angela Merkel vielleicht nicht die ND-Artikel, wohl aber Darstellungen der »Washington Post«, des »Stern«, des »Spiegel« und des britischen »Guardian« zur Verfügung gestanden haben. Hat sie nicht bei Jung nachgefragt? Waren dem die in seinem Hause vorhandenen Berichte unwichtig? Hat er etwa auch nicht den 20. Kontingent-Lagebericht des deutschen Afghanistan-Kommandos gelesen? Der liegt seit dem 14. September vor und bestätigte alle vorangegangenen Feldjäger-Einzelberichte über eine Vielzahl ziviler afghanischer Opfer. Haben die Kanzlerin oder ihr damaliger Vize Frank-Walter Steinmeier nie nachgefragt, was der am Donnerstag geschasste Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan herausgefunden hat? Den hatte Jung extra nach Kundus entsandt, um auch über Entschädigungen für tote Zivilisten zu beratschlagen.

Vermutlich wollten weder Merkel noch Steinmeier, dass der »Vorfall« vom 4. September ehrlich untersucht wird. Denn 23 Tage nach dem von der Bundeswehr zu verantwortenden mutmaßlichen Kriegsverbrechen fanden Bundestagswahlen statt. Die LINKE hatte plakatiert: Raus aus Afghanistan und damit den Willen der Bevölkerungsmehrheit artikuliert. Die Wahrheit über das Massaker von Kundus hätte andere vermutlich Wahlprozente gekostet.

Am Abend teilte Kanzlerin Merkel mit, dass die bisherige Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) ins Arbeitsressort wechseln soll. Ihr Amt wird die hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Kristina Köhler übernehmen.

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