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Von einem, der auszog, Demokratie zu erstreiten

Der lange Weg des Tom Sello von Riesa zum Prenzl'berg und in die Opposition

In Riesa machte er Abitur. Doch sein Studium platzte, weil er nicht Reservist der NVA werden wollte. So zog er nach Berlin Prenzlauer Berg, begann sich für Umweltprobleme zu interessieren und wurde Redakteur der »Umweltblätter«. Teil 48 der ND-Serie schildert den langen Weg von Tom Sello in die Opposition.
Am 1. Oktober ist der  Umweltaktivist und Bürgerrechtler vom Regierenden Bürgermeister von Berlin mit dem Landesverdienstorden geehrt worden. Die offiziellen Feiern sind vorbei – für Tom Sello geht die Arbeit weiter.
Am 1. Oktober ist der Umweltaktivist und Bürgerrechtler vom Regierenden Bürgermeister von Berlin mit dem Landesverdienstorden geehrt worden. Die offiziellen Feiern sind vorbei – für Tom Sello geht die Arbeit weiter.

Hutmacher ist ein alter, redlicher Beruf. Die Eltern von Tom Sello betrieben ein kleines Geschäft im sächsischen Großenhain. Es nährte die Familie mehr schlecht als recht. Zumal in einem Land volkseigener Betriebe der Damen-, Herren- und Jugendmode. Und wie oft kauft ein Mensch sich im Leben einen Hut? »Meist kamen die Leute nur, um sich ihren alten aufpolieren oder umarbeiten zu lassen«, erinnert sich Sello, der keinen Hut trägt. Schon als Junge verweigerte er sich jeglicher Kopfbedeckung, zum Betrübnis der Eltern. »Ich fand Mützen furchtbar.« Es war klar, der »Junge« wird den Laden nicht übernehmen. Opposition von Kindesbeinen an? Nein.

Die Eltern wünschen sich nur das Beste für ihren Sohn. Er ist ein guter Schüler, »ohne, dass ich groß büffeln musste«. Also soll er studieren. Und hier beginnt die Geschichte des langen Weges von Tom Sello in die Opposition.

*

»Ich wollte dazugehören«, sagt er. Aber schon in der Schule habe er sich ausgegrenzt gefühlt. Seine Eltern sind private Handwerker, Kleinbürger. »Und damit gehörte ich nicht zur Arbeiterklasse.« Hat er deshalb dann Baufacharbeiter gelernt? Um dazu zu gehören. Das will er so nicht bestätigen. Der Vorschlag kam von seinen Eltern. Weil er in seiner EOS Schwierigkeiten hatte, zu oft seine Meinung frank und frei sagte. »Ich befürchtete, es an dieser Schule nicht bis zum Abitur zu schaffen. Zwei in meiner Klasse sind wegen einer Nichtigkeit relegiert worden: Sie hatten Angela Davis, das heißt auf ihrem Foto an der Wandzeitung, zwei Zähne schwarz gemalt. Ein dummer Jungenstreich.« Die Eltern schicken ihn nach Riesa, in ein kleines tristes Industriestädtchen, wo ihr Sohn also das Abitur mit dem Abschluss eines Baufacharbeiters macht.

Vor dem Studium stand für Jugendliche männlichen Geschlechts der Wehrdienst. Und wer studieren wollte, verpflichtete sich in der Regel für drei Jahre und als Reserveoffizier. Danach stand Sellos Sinn nicht. »Freunde von mir, die bei der Armee waren, haben Gruseliges erzählt. Von der EK-Bewegung, Drangsalierungen und so.« Auf einen Glauben, der ihn den Dienst an der Waffe verbot, konnte er sich nicht berufen. »Ich war und bin kein Pazifist.« Aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert zu werden, klappte nicht. Doch Sello hat Glück, wird in eine Baukompanie abkommandiert und hat in Cottbus ein Kulturhaus mit errichtet. »Da hatte ich weniger, aber immer noch genug mit militärischen Strukturen zu tun. Ich fragte mich, welche Bedeutung das Militär für unsere Gesellschaft eigentlich hat. Uns wurde gesagt, die NVA hätte den Auftrag, im Falle eines Krieges zwischen West und Ost die DDR für ein paar Stunden zu halten. Als Vorposten für die Sowjetunion. Ich kam zu dem Schluss, dass eine andere Aufgabe viel wichtiger war als diese äußerst bescheidene militärische Funktion nach außen. Neben der Grenzsicherung gegen das eigene Volk hatte die Armee die Hälfte der Bevölkerung zur Anpassung zu bringen.« Sello konkretisiert mit drastischen Worten: »Sozusagen als Menschenbrechungsinstrument.«

Alles Militärische ist ihm zuwider. Er spricht von einer Militarisierung der DDR-Gesellschaft: Kriegsspielzeug im Kindergarten, Wehrkundeunterricht, vormilitärische Ausbildung in der Lehre, die »militärische Qualifizierung« während des Studiums, Zivilverteidigung für die Mädchen, Kampfgruppen im Betrieb. »Und überall auf den Straßen begegnete man Uniformen, ob von Volks-, Bereitschafts- oder Transportpolizei.«

Da Sello es ablehnt, als Reservist der NVA weiter zur Verfügung zu stehen, ist der Traum vom Studium geplatzt. Er will raus aus miefiger Kleinstadt, zieht in die Hauptstadt, in den Prenzlauer Berg und besetzt dort mit Freunden eine heruntergekommene Wohnung in der Schönhauser Allee 20. Er arbeitet im erlernten Beruf, als Maurer. Das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm Honeckers benötigt viele fleißige Hände. Sello erinnert sich schmunzelnd: »Als Arbeiter gehörte ich nun zwar zur herrschenden Klasse, aber andererseits konnte ich nicht tiefer fallen. Also konnte ich mir auch manch kritische Äußerung erlauben.«

Wer in Berlin-Prenzlauer Berg wohnte, stieß fast unweigerlich zur Opposition, könnte man meinen. Nein, so war es nicht. »Das war ein längerer Prozess, man wurde mehr oder weniger hineingedrängt. Mir ging das jedenfalls so. Eigentlich ist der Staat dafür verantwortlich, dass ich in die Opposition geriet. Es gab immer wieder Situationen, in denen ich mich entscheiden musste. Wo ich erkannte, das ist nicht das Land, in dem ich leben will. Jedenfalls nicht so, wie es ist. Da muss sich etwas ändern.« Dies habe nicht nur die Militarisierung betroffen, sondern auch die Umweltzerstörungen. »Jeder konnte den Zustand der Wälder sehen oder wusste um die verseuchten Flüsse. Da stellte man sich die Frage, warum die ›da oben‹ das nicht wahrhaben wollten, nichts dagegen taten. Im Gegenteil, es wurde alles schön geredet. Wenn in Westberlin Smogalarm ausgerufen wurde, gab es den bei uns, im Ostteil der Stadt, natürlich nicht. Das hieß, man musste selbst etwas tun, aus eigenem Interesse, für die Zukunft der Kinder. Ich habe Leute kennen gelernt, die das ähnlich sahen.«

Die das ähnlich sahen, gründen 1986 die Umwelt-Bibliothek. Einer von ihnen ist Carlo Jordan, ein Nachbar von Sello. Zunächst sucht der Maurer aus Riesa nur ab und an jenen Treffpunkt der Umwelt- und Friedensaktivisten im Keller des Gemeindehauses der Zionskirche auf. »Denn mit der Kirche wollte ich eigentlich nichts zu tun haben.« Nach dem Überfall von Staatssicherheitsleuten in der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 habe er sich dann aber gesagt: »Deine Freunde sind verhaftet worden. Es reicht nicht mehr, nur ihre Aktivitäten zu unterstützen. Du musst jetzt in der Gruppe mitmachen.« Sello beteiligt sich an den Mahnwachen für die Freilassung der Inhaftierten. Und wird Redakteur der »Umweltblätter«, die später in »telegraph« umbenannt werden.

Wie kamen die Dissidenten an Papier sowie Druck- und Vervielfältigungsgeräte? Das eine bekanntlich knapp in der DDR, das andere nicht im Laden zu kaufen. »Wir haben ausgekundschaftet, wann die Schreibwarenläden neue Papierlieferungen bekamen, und sind dann gleich hin, kauften so viel, wie man bekam.« Die »Umweltblätter« wurden republikweit vertrieben, durch ein Netzwerk, das sich über die ganze DDR erstreckte. Aus der ganzen Republik kamen Gleichgesinnte, brachten außer neuen Informationen in ihren Rucksäcken auch Papier mit. Retour konnten sie fertig gedruckte Exemplare in ihre Stadt, in ihr Dorf mitnehmen, erzählt Sello. Und die Matrizen? »Die wurden aus dem Westen eingeschmuggelt. Die erhielten wir von westdeutschen Umweltgruppen und vor allem ausgebürgerten DDR-Kritikern wie Roland Jahn in Westberlin.«

Bestand dadurch nicht die Gefahr der Fremdsteuerung? Und gab dies nicht gar den Sicherheitsorganen der DDR recht, die subversive Infiltration mit geheimdienstlichem Hintergrund vermuteten? Sello verneint. »Das war der große Trugschluss, dass kritische Gedanken vom Westen verursacht und Wünsche nach Veränderungen und Freiheit nicht vom eigenen System hervorgebracht worden sind.« Er schildert ein Beispiel, wie dieser Irrtum ihm einmal zum Glück gereichte. Das war vor seiner Zeit in der Umwelt-Bibliothek. 1982 hat er mit Freunden ein Flugblatt hergestellt, in dem – sich auf die Verfassung der DDR berufend – ein Volksentscheid über das neue Wehrdienstgesetz gefordert wurde. »Zwei Jahre hat die Staatssicherheit nach den Verfassern zwischen Rügen und Thüringer Wald gefahndet. Vergebens. Weil man von zwei Kriterien ausging. Erstens: die Leute haben Westverbindung. Zweitens: Sie befinden sich im kirchlichen Umfeld. Beides traf auf uns damals nicht zu.«

Am Montag, den 7. Oktober 1989 will Sello mit seinen beiden Söhnen einen Ausflug ins Grüne machen. Auch er hat am »Republikgeburtstag« geflaggt – indes schwarz. Nach dem Frühstück bricht er mit seinen Kindern auf. Er ist kaum aus der Haustür, da sieht er sich von drei Autos, Marke Lada, eingekeilt. »Männer sprangen heraus: ›Herr Sello, ist das Ihre Fahne?‹ Sie wussten meinen Namen. Und natürlich auch, dass dies meine Flagge war. Sie haben sich als Kriminalpolizei vorgestellt und wollten mich vor den Augen meiner Söhne verhaften. Das musste ich verhindern. Ich sagte: ›Okay, okay. Ich nehme das Ding wieder ab.‹ Ein paar Wochen zuvor hätten sie sich wohl nicht damit begnügt. Ein Zeichen, dass irgendwas schon anders war.«

Am Abend des »Republikgeburtstages« begibt sich der Atheist und Aktivist wieder zur Gethsemanekirche, wo seit dem 2. Oktober Mahnwachen und Fürbitten stattfinden. Er ahnt nicht, dass der seit dem Mai jeden Montag auf dem Berliner Alexanderplatz stattfindende Protest gegen die Wahlfälschung sich diesmal zu einer großen Demonstration ausweiten würde, die zum Palast der Republik zieht, wo Erich und Margot Honecker mit ausländischen Staatsgästen den 40. Jahrestag der DDR feiern. In der Dimitroffstraße, wie damals die Danziger Straße hieß, stutzt Sello: »Menschenmassen und so viele Sicherheitskräfte, wie ich sie noch nie gesehen habe.« Es war Polizeieinheiten gelungen, die nun schon an die zwei- bis dreitausend zählenden Demonstranten vom Palast der Republik in Richtung Prenzlauer Berg abzudrängen. »Die Stimmung brodelte. Ich musste aber irgendwie zur Kirche.« Postenketten verriegeln die Stargarder Straße und die Pappelallee. »Da habe ich Schleichwege über Hinterhöfe genommen.« Der Sohn des Hutmachers ist auf der Hut. »Ich bin jeder Konfrontation ausgewichen. Es wäre nicht sinnvoll gewesen, wenn wir alle verhaftet worden wären.«

Am Abend des 9. November arbeitet Sello wieder an einer neuen Ausgabe des »telegraph« im knapp acht Quadratmeter kleinen Kellerraum der Umwelt-Bibliothek. »Da hatten wir einen kleinen Fernseher. Wir haben die Übertragung der Pressekonferenz im DDR-Fernsehen gesehen. Und als Schabowski was von einer neuen Reiseregelung sagte, hielt ich das nur für ein neuerliches falsches Versprechen.« Das Versprechen ist ein Verspecher. Als im Westfernsehen die ersten Bilder von Grenzübergangsstellen gesendet werden, eilt Sello raus aus dem Keller in den Veranstaltungsraum im Hinterhaus: »›Hey Leute, die haben die Grenze aufgemacht, die lassen welche durch.‹ Ich musste das vier, fünf Mal sagen, bevor es bei den anderen ›klick‹ gemacht hat.«

Sello zieht nicht los, um den Westen zu »bekieken«. Weil es »besonders brisantes Material« gab. »Wir hatten einen Mitschnitt von einer Sitzung der SED-Fraktion vor einer Volkskammertagung im Oktober. Das Tonband hat uns ein Techniker zugespielt. Die Genossen haben sich heftig gestritten. Es ging auch um die Absetzung von Honecker und dessen Nachfolge.« Es muss sich also um eine Sitzung vor dem 18. Oktober gehandelt haben. Wer würde sich nach dem Mauerfall dafür noch interessieren? Sello zuckt mit den Schultern: »Das war schon interessant. Der Mitschnitt dokumentierte die Auflösungserscheinungen in der herrschenden und führenden Partei. Außerdem war nach der Öffnung der Mauer ja auch nicht grundsätzlich, von heute auf morgen, alles anders. Die SED war weiter an der Macht, hatte die Regierungsgewalt und die Befehlsgewalt über die militärischen Strukturen inne. Ich dachte damals: Jetzt wird es schwieriger, die DDR zu ändern.«

*

1990 ist Sello am Aufbau des Matthias-Domaschk-Archivs in Berlin beteiligt. Den »telegraph« gibt es noch drei Jahre. Dann ist Funkstille. Sello wird Mitarbeiter der Robert-Havemann-Gesellschaft. Ihr bescheidenes Domizil befindet sich in einem Hinterhof im Prenzlauer Berg. Der einzige »Luxus« ist eine Messingtafel an der Fassade des Vorderhauses in der Schliemannstraße. Aktenkartons stapeln sich im Flur und in den Räumen. Die Glocken der Gethsemanekirche, nur wenige hundert Meter entfernt, sind zu hören. Sello wohnt um die Ecke, erfahre ich. Drei Mal ist er umgezogen, seit er in Berlin lebt. In einem Radius von 500 Metern. Er bleibt Prenzl'berg treu.

Bei der Konzipierung und Erarbeitung der Open-Air-Ausstellung »Die Friedliche Revolution 1989« auf dem Alexanderplatz hatte Sello den Hut auf. Sie ist bis zum 3. Oktober nächsten Jahres verlängert worden. Sello ist stolz auf das Werk und hofft, dass sich ein dauerhafter Aufstellungsort findet. Aber auch über mehr Unterstützung seiner Gesellschaft, die den Namen eines SED-Dissidenten trägt, würde er sich freuen. »Nicht nur für Ausstellungen und Veranstaltungen, sondern auch den Archivbetrieb. Alles wird mit kurzfristigen Projektmitteln finanziert. Da ist vieles nur begrenzt planbar. Die Unterhaltung eines Archivs ist aber eine langfristige Aufgabe.« Das Schriftgut der Robert-Havemann-Gesellschaft zählt 400 laufende Meter Akten, MfS-Dokumente, Samisdat-Publikationen, Briefe, Kassiber. Gehütet werden auch gegenständliche Zeugnisse des Protestes und Widerstands, Plakate, Fotos, Stempel, Videos, Tonbänder und Transparente. Das Gedächtnis und Vermächtnis einer verschwundenen Opposition.

Am nächsten Montag:
Umbruch in Rumänien

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